Leseprobe: Pferde gesund trainieren
Die unterschätzte Rolle der Vorhand
Haben Sie Lust auf ein kleines Experiment? Stellen Sie sich hin, spannen Sie Ihre Rumpfmuskulatur an und nun hüpfen Sie mehrmals hintereinander aus der Wade in die Luft, landen Sie immer auf den Fußballen und springen Sie direkt wieder nach oben. Wie oft schaffen Sie‘s? Und nun lassen Sie mal die Spannung aus Ihrem Körper weichen. Springen Sie in die Luft. Nochmal, wenn‘s geht, und nochmal. Wie fühlt sich‘s an? Flummi versus nasser Sack? Ja, der Wettstreit könnte ungleicher nicht sein. Und kaum deutlicher in seiner Botschaft: Wer mit positiver Körperspannung hüpft, hält länger durch. Und schont seine Gelenke und den Bandapparat. Stefan Stammer nennt das Federn. Er ist Physiotherapeut und Pferde-Osteopath, einer, der sich seit 20 Jahren mit den Trainingskonzepten und der Biomechanik, also den physikalischen Gesetzmäßigkeiten von Bewegung, beschäftigt. Er sagt: „Die Pferde müssen federn lernen.“ Denn dann würden sie optimal trainiert und blieben lange gesund. Das klingt großartig und auch völlig logisch – nur, wie sag‘ ich‘s meinem Pferd? Am besten von vorne – und ausnahmsweise nicht von hinten.
Ein falsches Bild
Oft ist beim Reiten von der Hinterhand die Rede. Wir Reiter sollen und wollen die Hinterhand unseres Pferdes kräftigen, das Pferd soll sich auf sein Hinterbein setzen, es soll hinten vermehrt Last aufnehmen ... Wir alle kennen diese Sätze aus dem Reitunterricht. Aber genau hier entsteht für Stefan Stammer ein falsches Bild für den Reiter. Und Stammer ist nicht der Erste, der das betont. Schon Udo Bürger schrieb einst der Vorhand eine zentrale Rolle zu. Etwa in diesem Zitat aus dem 1939 erstmals erschienenen Buch-Klassiker „Der Reiter formt das Pferd“, das Bürger mit Otto Zietzsch-mann schrieb: „Es ist eine weitverbreitete Irrlehre, dass die Hinterhand zu vermehrtem Untertreten angehalten werden soll, damit die ‚empfindlichere’ Vorhand entlastet wird. Diese Lehre hat früher dazu geführt, dass man es für nötig hielt, das Reitergewicht möglichst nach hinten zu verlagern.“ Dieses Zitat hat auch im neuen Jahrhundert an Aktualität kaum verloren. Wissenschaftlich untersucht von Dr. Hilary Clayton ist eine Gewichtsverlagerung von etwa zwei bis drei Prozent möglich, durch das Kippen des Beckens. Mehr nicht. „Ich kriege kein Gewicht von vorne nach hinten“, bringt es Stammer auf den Punkt.
Fakt ist, die Vorhand des Pferdes trägt von Natur aus mehr Gewicht als die Hinterhand. Sie durch Gewichtsverlagerung zu entlasten, ist leider ein Irrglaube. Ob höchste Versammlung oder Dehnungshaltung, die Vorhand wird immer belastet. Die Frage ist nur: Lässt man die Bewegung der Vorhand passiv durch die Schulterblätter in die Sehnen- und Gelenksysteme durchrauschen oder lässt man die aktive Muskulatur der Vorhand die Bewegung abfedern? Denken Sie an das kleine Experiment am Anfang des Artikels: Flummi versus nasser Sack. ...