Die korrekte Anlehnung, Teil I
Ein zu eng eingestelltes Pferd darf nicht normal sein
Was Anlehnung ist ...
Sich an jemanden anzulehnen, bedeutet, dass man sich wohlfühlt. Man vertraut der Person, sucht Stabilität, hat keine Angst, grob zurückgewiesen oder fallengelassen zu werden. Doch braucht es erst einmal Vertrauen, um sich anzulehnen. Im Grunde beschreibt dies ziemlich genau, was es mit der Anlehnung zwischen Reiterhand und Pferdemaul auf sich hat. Allerdings ist der Hintergrund ein deutlich differenzierter, als nur einen Halt im Miteinander zu suchen. Denn die Anlehnung ist das Ergebnis korrekten Reitens. Doch genau aus diesem Grund ist eine fehlerhafte Kopf-Hals-Einstellung so weit verbreitet. Denn wer sich als fortgeschrittener Reiter versteht, achtet häufig vorrangig darauf, dass sein Pferd augenscheinlich am Zügel geht. Schnell wird manipuliert, der Kopf in Position gezwungen, um nach außen zu signalisieren, dass man kompetent ist und das Pferd unter Kontrolle hat. Allerdings stößt dieser Weg schnell an Grenzen.„Die Anlehnung muss vom Pferd ausgehen“, macht Pferde-Osteotherapeutin Beatrix Schulte Wien als erstes deutlich. „Der Mensch lehnt sich auch bewusst irgendwo an. Dort, wo es angenehm ist.“ Wie der ehemalige Leiter der Westfälischen Reit- und Fahrschule, Michael Putz, einmal sagte, müsse der Reiter das Gebiss dem Pferd schmackhaft machen. „So beginnt es zu kauen und sucht darüber die Anlehnung an unsere Hand“, erklärt Schulte Wien. In welcher Position sich der Kopf zu diesem Zeitpunkt noch befindet, ist erst einmal nicht so wichtig. Denn: Die für das Pferd angenehme Verbindung zur Reiterhand ist nur ein kleiner Teil des Zusammenspiels mit dem Ergebnis der Anlehnung.
„Anlehnung beginnt beim Heranfußen des Hinterbeins.“ So fasst es Dressurausbilder Hubertus Graf Zedtwitz kurz und bündig zusammen. Dann erläutert er: „Hat der Reiter das Pferd vor seinen treibenden Hilfen, bewegt es sich losgelassen und ausbalanciert, fußt es mit dem Hinterbein unter den Schwerpunkt. Die Bauchmuskeln spannen sich in diesem Moment an, der Rücken wölbt sich auf und die Energie aus dem Hinterbein fließt über den Rücken in die weiche Zügelverbindung bis zum Maul.“ Dort stößt sich das Pferd am Gebiss ab. Es dehnt sich an die Hand heran. Und zwar nicht nur in der Dehnungshaltung, in der die Pferdenase ab Höhe des Buggelenks getragen wird, sondern auch in der Aufrichtung. In beiden Fällen sollte die Stirn-Nasen-Linie des Pferdes vor der Senkrechten sein.
Reine Theorie? Nein. Tatsächlich machbar. Allerdings – und das sollte man immer beherzigen – ist die Anlehnung in der Bewegung des Pferdes dynamisch. Dass die Stirn-Nasen-Linie teils also hinter die Senkrechte gerät, ist normal. „Doch der Impuls des Herandehnens und die mitgehende Hand bringt sie automatisch wieder vor“, beschreibt Hubertus Graf Zedtwitz. Vorausgesetzt, das Zügelmaß ist nicht zu kurz gewählt. Drei Begriffe sind unseren Experten in diesem Zusammenhang wichtig: die Selbsthaltung, die Core-Muskulatur und die geöffnete Ganasche. „Das Pferd muss Kopf und Hals selbst tragen“, erklärt Beatrix Schulte Wien, was hinter der Selbsthaltung steckt. „Liegt das Pferd auf dem Zügel, ist das keine Anlehnung. Es ist schlicht ein Anzeichen dafür, dass das Pferd nicht ausbalanciert ist. Es fällt auf die Vorhand und sucht die Stütze in der Reiterhand.“ Ob das Pferd sich trägt, kann man leicht erkennen, indem man die Zügel einige Pferdelängen überstreicht, die Hand also am Mähnenkamm nach vorne gleiten lässt und die Anlehnung bewusst für einige Sekunden aufgibt. Bleiben Kopf und Hals in Position, geht das Pferd in Selbsthaltung. Damit es dies aber überhaupt körperlich kann, muss seine Core-Muskulatur erst einmal gestärkt werden, also die Bauch- und Rückenmuskulatur, um den Reiter ausbalanciert tragen zu können. Ein ganz junges Pferd, das gerade am Anfang seiner Ausbildung steht, hat noch kaum Stabilität und wird schon aufgrund der fehlenden Kraft den Rücken immer mal wieder wegdrücken und sich herausheben. „Besonders in Übergängen ist es normal, dass junge Pferde noch nicht geschlossen und stabil in der Anlehnung sind“, betont Zedtwitz und beschreibt: „Dass ein Pferd in Selbsthaltung auch in Übergängen rund bleiben kann, hat mit drei Aspekten zu tun: der Anspannung der Core-Muskulatur, dem Kippen der Hüfte und dem vermehrten Untertreten mit der Hinterhand. Dies ist ein Trainingsprozess, der erst im Laufe der Zeit zum Ergebnis führt.“ Dann, wenn das Pferd immer mehr an Tragkraft gewinnt.
Der dritte Begriff, den beide Experten immer wieder ansprechen, ist die geöffnete Ganasche, die schnell mit einem geöffneten Genick verwechselt wird. „Wenn die Stirn-Nasen-Linie vor der Senkrechten ist, schließt sich das Gelenk zwischen Schädel und erstem Halswirbel. Wenn ein Pferd zu eng ist, öffne ich das Genick“, erklärt Beatrix Schulte Wien. „In einer guten Anlehnung sollte allerdings die Ganasche geöffnet sein. Das passiert, weil der Unterkiefer des Pferdes nach vorne geschoben wird, wenn das Pferd ans Gebiss herantritt und die Nase vor der Senkrechten ist.“ Hubertus Graf Zedtwitz ergänzt: „Wichtig ist, dass das Pferd nicht einfach nur den Hals fallen lässt und sich in die Tiefe dehnt, sondern dass dies aus einem angehobenen Brustkorb heraus passiert. Nur dann sind wirklich die richtigen Muskeln aktiv.“ Ein Indiz: Die geöffnete Ganasche sieht dann nicht aus wie ein V, sondern wie ein U. Außerdem zeichnet sich am Hals die mittlere Muskelrinne ab – der Halsmuskel tritt an beiden Seiten deutlich hervor. „Nur, wenn diese Linie zu sehen ist, geht das Pferd reell über den Rücken“, sagt Zedtwitz klar.
Doch, wofür braucht es die Anlehnung überhaupt? Die Antwort begründet Hubertus Graf Zedtwitz mit reiner Physik: „Ein Impuls, den du gibst, muss irgendwo ankommen, um zurückgespiegelt werden zu können. Die Energie des Schwungs soll ja nicht im Nirwana verpuffen, sondern im Pferd erhalten bleiben. Dafür braucht es die Anlehnung.“ Gleichzeitig soll sie für das Pferd eine Wohlfühlhaltung sein. Pferde in Panik tragen den Kopf hoch erhoben, entspannen sie sich, senken sie ihn. Ein großer Fehler ist, zu versuchen, die Pferde durch ein Herunterriegeln des Kopfes zu kontrollieren. „Ein Pferd muss in voller Geistesgegenwertigkeit die Umgebung aufnehmen können und trotzdem im Vertrauen beim Reiter bleiben“, beschreibt Zedtwitz. Sein Tipp: „Achten Sie beim Reiten mal darauf, dass Ihr Pferd die Ohren nach vorne richtet und versuchen Sie es dahingehend zu motivieren.“ Denn Durchlässigkeit bedeutet, dass das Pferd die Umgebung wahrnimmt und gleichzeitig beim Reiter ist.
So ganz ohne Handeinwirkung geht es aber nicht. „Impulse“, nennen es Beatrix Schulte Wien und Hubertus Graf Zedtwitz. Wenige Gramm in der Hand, die es aber braucht, um eine stabile Verbindung zu garantieren. Dabei ist wichtig, dass das Pferd gleichmäßig an beide Zügel herangetrieben wird. „Den Impuls beispielsweise zum Wenden, zum Übergang oder dergleichen gibt dann der äußere Zügel. Die innere Hand ist eine ganz ruhige Verbindung, die der Ganasche die Stellung abfordert“, erklärt Zedtwitz. „Das ist kein Impuls, sondern eine ganz ruhige Bewegung.“ Ein ständiges Spielen mit den Fingern lehnt der Ausbilder ab. „Das typische Schwamm ausdrücken ist meistens ein einfaches Herumfummeln, das wenig Funktion hat.“ Er vergleicht den Reitersitz mit einer Menschenmenge, bei der jedes Körperteil einen Menschen darstellt. „Wenn ich in einen Raum komme und die Menschenmenge durcheinander spricht, kann ich einem einzelnen nicht folgen. Ich kann nur folgen, wenn ein Mensch einen Vortrag hält oder zwei Menschen einen Dialog und alle anderen schweigen.“ Ähnlich sei es mit den Hilfen, deren Impulse gezielt gesetzt werden müssen.