Reiten mit Spiegeln – wie es richtig geht
Spiegel dienen der Selbstkontrolle beim Reiten, manche Reiter nutzen sie sogar als Trainerersatz. Aber funktioniert das wirklich? „Wer nur in den Spiegel schaut, verliert sein Gefühl“, mahnt Dressurausbilder Jürgen Koschel aus Hagen am Teutoburger Wald und auch Grand-Prix-Reiterin Heike Kemmer sagt: „Im Spiegel erhasche ich stets nur einen kurzen Augenblick. Ein Trainer kann das Gesamtbild beurteilen.“ Sind verspiegelte Hallenwände also überflüssig? Jürgen Koschel betont, dass der Reiter in der Prüfung alleine ist. „Und da ist das Gefühl das Wichtigste.“ Heike Kemmer sieht es genauso, erkennt aber im Spiegel auch eine Chance, das richtige Gefühl zu entwickeln: „Ich sehe direkt, ob das Pferd geschlossen undge rade steht. Dieses Gefühl beim Halten kann man sich merken.“ Vehement rät sie davon ab, sich vor dem Spiegel ‚zu Tode zu korrigieren‘ und über das Spiegelbild das Reiten zu vergessen.
Kein Trainerersatz
„Ein Spiegel kann den Trainer nicht ersetzen, ist aber richtig eingesetzt ein gutes Hilfsmittel“, so die erfahrene Ausbilderin. Für besonders sinnvoll hält sie den fokussierten Blick in den Spiegel. „Am besten überlege ich vorher, was ich kontrollieren will. Alles auf einmal kann ich nicht beurteilen“, berichtet sie aus ihrer Praxis. Also heißt es, sich vorher genau vorzustellen, ob der Blick auf das Genick, die Schenkellage oder das aktive Hinterbein des Pferdes fallen soll. Dann wandern die Augen nur kurz zur Wand und das Drehen des Kopfes verändert nicht die gesamte Position des Reiters im Sattel. Denn obwohl Spiegel eigentlich dazu da sind, den Sitz zu prüfen und zu verbessern, bewirken sie häufig das Gegenteil. „Wenn ich auf der Diagonalen fliegende Galoppwechsel reite und dabei ständig zur Spiegelseite schaue, kann ich schnell die Balance verlieren“, erklärt Koschel.
Heike Kemmer bringt es auf den Punkt:
„Wenn ich mich im Sattel verdrehe, um in den Spiegel zu schauen, ist das nie förderlich.“
Reiten ist Gefühlssache
Nichtsdestotrotz ist der Spiegel allemal ein Hilfsmittel für Reiter, die nicht von einem Trainer korrigiert werden. Das Halten auf der Mittellinie kann mit dem Spiegel sehr gut überprüft werden. Steht das Pferd gerade, darf der Reiter nur die beiden Vorderbeine sehen. Die Hinterbeine werden von ihnen verdeckt. So steht das Pferd schnurgerade und bekommt in der Prüfung eine gute Note.
Für sehr sinnvoll hält Jürgen Koschel Spiegel am Ende der langen Seite, sozusagen in der Ecke. Bei Lektionen wie Schulterherein lohnt sich der Blick in den Spiegel besonders: Er zeigt, ob das Pferd wie gewünscht mit der Hinterhand auf dem ersten Hufschlag bleibt und mit der Vorderhand so weit nach innen gekommen ist, dass das äußere Vorderbein vor das innere Hinterbein tritt. Das Pferd bewegt sich dabei auf drei Hufschlägen, wobei die Hinterbeine nicht kreuzen. Beim Schulterherein befindet sich der Spiegel ohnehin in Blickrichtung des Reiters, sodass dieser sich und sein Pferd gut kontrollieren kann.
Weniger geübten Reitern rät Heike Kemmer, sich zunächst im Halten und im Schritt oder beim Viereck vergrößern und verkleinern anzuschauen. Bei weniger temporeichen Übungen fällt es leichter, sich selbst zu beurteilen. „Hinterhandwendungen und Schrittpirouetten lassen sich auch gut im Spiegel bewerten“, ergänzt Reitmeister Hubertus Schmidt.
Kurze Blicke genügen
Er nutzt die Spiegel in seiner Reithalle viel und gerne. Darin überprüfe er beispielsweise, ob die fliegenden Galoppwechsel auf der Mittellinie gerade gelingen, erklärt Schmidt. „Ich starre jedoch nie auf den ganzen 60 Metern in den Spiegel, sondern schaue stets nur kurz.“ Probleme, die durch das Reiten mit dem Spiegel entstehen können, sieht er nicht, stellt jedoch heraus, dass „das Fühlen das Wichtigste bleibt.“ Außerdem schaue er immer nur kurz in den Spiegel, unter anderem um seinen eigenen Sitz zu kontrollieren. „Besonders wenn niemand da ist, der einem Tipps geben kann, ist es besser mit Spiegel zu reiten, als ganz ohne Hilfe“, so Schmidt weiter.
„Reiten ist Gefühlssache. Ich kann bei einer Rechtstraversale nicht nur auf ein Bein schauen, das muss ich fühlen. Aber ich kann mit dem Spiegel prüfen, ob die Hinterhand und die Vorderhand parallel sind“, so Koschel. Spiegel dürfen seiner Ansicht nach nicht überbewertet werden.
Auf seiner eigenen Anlage hat er nur an der kurzen Seite Spiegel anbringen lassen. „Wichtig ist, dass die Qualität des Spiegels stimmt. Er darf nichts verzerren.“ Wenn das nötige Kleingeld da ist, hält er es durchaus für sinnvoll, die komplette kurze Seite zu verspiegeln. „Ich sehe anderenfalls immer nur einen kurzen Ausschnitt im Spiegel.“
Vorsicht Springinsfeld
Beim Freispringen müssen die Spiegel abgehängt werden. Sie können entweder Jalousien, Vorhänge oder einen klappbaren Holzsichtschutz dafür anbringen. Die Spiegel können die Pferde anderenfalls irritieren und zu schweren Unfällen führen. Manche Pferde springen sogar in den Spiegel.
Hilfe, ein Spiegel
Sieht ein Pferd sich zum ersten Mal im Spiegel, kann es sich erschrecken. Prof. Dr. Dr. József Tóth von der Tierklinik Domäne Karthaus in Dülmen ist auf das Gebiet Augenheilkunde spezialisiert und erklärt, warum das Pferd sich erschrecken kann. „Ein Pferd sieht nur sechs bis zehn Meter weit richtig scharf. Alles andere ist verschwommen. Die unscharfe Bewegung im Spiegel nimmt es wahr, kann sie nicht zuordnen und erschrickt deshalb.“ Er schließt aus, dass Pferde sich selbst im Spiegel erkennen können oder das Spiegelbild für einen Artgenossen halten. „Im Spiegel verändert sich die Größe des Pferdes extrem. Da das Pferd einen viel weiteren Bereich sieht als Menschen, glaube ich nicht, dass es sein eigenes Spiegelbild für einen Artgenossen hält“, so der Tierarzt. Hinzu kommt, dass Pferde weder dreidimensional sehen noch Tiefe im Spiegel beurteilen können.
Der Text ist erstmals in der Januar-Ausgabe 2014 der Reiter Revue veröffentlicht worden.
Diskussion: Muss das Genick der höchste Punkt sein?
Genick höchster Punkt, Nase vor der Senkrechten – so zeigt es ein korrekt in der Anlehnung gerittenes Pferd. Zu sehen gibt es das allerdings selbst in den höchsten Klassen nur in vereinzelten Momentaufnahmen. Reine Theorie, falsches Reiten oder eine Anforderung, die nicht mehr zum modernen Sportpferd passt?
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