Die Fressdauer künstlich verlängern
Engmaschige Heunetze - sinnvoll oder gefährlich?
Verletzungen, Magenprobleme, Blockaden. Julie von Bismarck kann eine ganze Liste an negativen Auswirkungen von engmaschigen Heunetzen aufzählen. Die Pferdeosteopathin und Akupunkteurin spricht ein heikles Thema an, dachten doch viele Pferdebesitzer, eine einfach umsetzbare Lösung für das Problem von zu langen Fresspausen gefunden zu haben.
Normalerweise sollen Pferde rund 16 Stunden am Tag mit dem Fressen von Raufutter beschäftigt sein, damit ihr Verdauungssystem einwandfrei funktioniert. Die Realität sieht allerdings anders aus, denn in vielen Pensionsställen werden die Pferde aus Personal- und Kostengründen lediglich morgens und abends mit Heu versorgt. Und selbst wenn Heu unbegrenzt zur Verfügung steht, müssen Besitzer leichtfuttriger Pferde eine Möglichkeit finden, wie sie es bedarfsgerecht rationieren und gleichzeitig die Fressdauer möglichst weit ausdehnen. Eine einigermaßen alltagstaugliche Variante: das Heunetz. Engmaschig, stabil, leicht befüllbar. Damit Verletzungen durch ein Hängenbleiben mit den Hufen vermieden werden, am besten in Brusthöhe des Pferdes aufgehängt. Doch nun wird eben jene Kritik laut, dass allein schon diese Höhe alles andere als positiv für den Fressvorgang des Pferdes ist. Von den engen Maschen ganz zu schweigen. Wahrheit oder Panikmache?
„Ich bin nicht grundsätzlich gegen die sogenannten Slow Feeder“, macht Julie von Bismarck erst einmal deutlich. Denn für manche Pferde sei es die einzige Möglichkeit, bedarfsgerecht gefüttert zu werden und gleichzeitig eine lange Fresszeit zu haben. Doch grundsätzlich hat die Heunetz-Technik auch Nachteile, die bedacht werden sollten, wenn man sein Pferd ohne besondere Gründe aus dem Heunetz füttert. Das prangern mittlerweile einige Kritiker an. „Frisst das Pferd mit erhobenem Kopf schiebt sich der Unterkiefer nach hinten, was wiederum zur Folge hat, dass die Schneidezähne nicht übereinander stehen, wie es bei gesenktem Kopf zum Abrufen des Grases der Fall ist. Rupft ein Pferd mit erhobenem Kopf am Heu, muss es den Unterkiefer durch Muskelkraft vorschieben, was dauerhaft zu einer Überstrapazierung und Verspannung der Kiefermuskulatur führen kann“, macht Julie von Bismarck deutlich. Sie behandelt viele Pferde mit diesen Problemen. Falsches Reiten, Festliegen oder das Zurückwerfen im Halfter sind häufige Auslöser für Blockaden, doch das energische Rupfen am Heu aus engmaschigen Netzen, bei dem das Pferd ruckartig mit dem Kopf schlägt, ist ebenso ein Grund. „Das Fazit daraus ist, dass das Pferd auch in der Schulter verspannt ist und dass es seine Unterhalsmuskeln falsch trainiert“, gibt von Bismarck zu bedenken.
„Ein Heunetz halte ich für ein kleines Problem. Pferde fressen auch Blätter von Bäumen und verdrehen dabei den Kopf und Hals“, sagt Tierarzt und Fütterungsexperte Dr. Jürgen Martens. Pferde auf der Weide verbringen allerdings die meiste Zeit mit Grasen und halten den Kopf bodennah. Viele Pferde, die nur stundenweise Auslauf haben und dies häufig auf Paddocks, nehmen diese natürliche Haltung jedoch selten ein, wenn sie das Heu grundsätzlich aus dem Netz gefüttert bekommen.
Das zeigt sich wiederum an den Zähnen. „Verletzungen durch Heunetze sind kein größeres Problem“, verneint Tierärztin Ruth Kosanetzky-Schröder zwar, stellt aber fest, dass sich viele Pferdebesitzer nicht bewusst machen, dass die unnatürliche Fresshaltung mit erhobenem Kopf Auswirkungen auf den normalen Zahnabrieb des Pferdes hat. „Ober- und Unterkiefer sind etwas versetzt und die Zähne reiben beim Kauen nicht genau aufeinander. So entstehen Zahnhaken“, sagt die Spezialistin für die Bereiche Zahnheilkunde und Chiropraktik. Wer sich also für das Füttern mit Heunetz entscheidet, sollte die Zähne seines Pferdes auf jeden Fall regelmäßig vom Spezialisten nachschauen lassen.
Achtung Fress-Frust!
Die Frage, ob die Schneidezähne durch das Zupfen am Material des Netzes kaputt gehen, kann Kosanetzky-Schröder mit Nein beantworten. Eine größere Gefahr lauert in den Weide-Maulkörben aus Kunststoff. „Daran haben sich schon Pferde die Schneidezähne bis auf den Nerv angewetzt“, gibt sie zu bedenken. Kommen sie zum Einsatz, sollte der Halter also genau darauf achten, wie das Pferd mit der eingeschränkten Fressmöglichkeit umgeht. Und unbedingt die Zähne im Blick behalten.
Häufig fördern aber gerade diese sogenannten „Fressbremsen“ Frustration beim Pferd. Besonders wenn zu langes Gras vom Maulkorb nach unten gedrückt wird und kaum Halme durch die Löcher fressbar sind. Ein Heunetz mit sehr engen Maschen kann einen ähnlichen Effekt haben, besonders wenn das für Pferde gewünschte grobe, langhalmige Heu sehr eng ins Netz gestopft wird. „Viele Pferde geben auf und fressen zu wenig, obwohl sie Hunger haben“, sagt Julie von Bismarck. Dr. Jürgen Martens hat diese Beobachtungen noch nicht gemacht, stimmt aber zu, dass die Maschen des Netzes und die Beschaffenheit des Heus ein gleichmäßiges Rupfen zulassen müssen.
Dass die Fresszeit durch den Einsatz von Heunetzen verlängert wird, ist jedem bewusst. Eine Studie von der Hoogeschool Van Hall Larenstein in den Niederlanden und der Georg-August Universität in Göttingen hat ergeben, dass ein Pferd für ein Kilogramm Heu in einem Netz mit vier mal viel Zentimeter großen Maschen eine Fresszeit von hochgerechnet 66,12 Minuten benötigt. Im Vergleich dazu: Mischt man Heu mit Stroh braucht das Pferd 37,99 Minuten für ein Kilo Heu, legt man ihm ein Kilo Heu als Haufen vor, frisst es diesen in 34,51 Minuten.
Das Kau-Kriterium
Diese Werte sagen allerdings nichts über die Kauschläge aus, die ein Pferd für die Heumenge benötigt. Und die sorgen für das Sättigungsgefühl. Ganz nach dem Motto: Iss langsamer und kau‘ die Nahrung gründlicher, dann wirst du schneller satt sein. Ein Tipp, den auch Ernährungsexperten im Humanbereich geben. Denn durch Kauen wird Speichel produziert. Je mehr man kaut, desto mehr Speichel entsteht, der den Magen bei der Verdauung entlastet. So ist es auch beim Pferd.
Doch gerade da spielt der Hunger eine große Rolle. „Bekommt ein Pferd sein Heu nur in engmaschigen Netzen und kann dementsprechend nur kleine Heumengen rupfen, kaut es diese oft schlecht“, sieht von Bismarck als Problem. Unter anderem würden Studien aus England belegen, dass ein Pferd ungefähr 66 Kauschläge pro Minute bei einem Netz mit 7,5 Zentimeter breiten Maschen mache, bei einem Netz mit 2,5-Zentimeter-Maschen lediglich noch 17. Verdauungs- und Magenprobleme können die Folge sein. „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass bestimmte Halswirbelblockaden auf Magenerkrankungen hinweisen“, berichtet Julie von Bismarck aus ihrer Erfahrung. „Wenn in diese Richtung ein Zusammenhang besteht, kann ich nicht ausschließen, dass eventuell auch Halswirbelblockaden Magenprobleme verursachen könnten.“ Fakt ist, dass generell mehr Pferde an Magenproblemen leiden, als man erwartet. Bei fast 90 Prozent der Rennpferde geht man mittlerweile von Magengeschwüren aus. Deshalb sind lange Fresszeiten umso wichtiger. „Viele Pferde, die leichtfuttrig sind, fressen sehr schnell. Da ist ein Heunetz fraglos sinnvoll, um die Futteraufnahme etwas zu verlangsamen“, macht Dr. Jürgen Martens deutlich. „Kontinuierliche, langsame Raufutteraufnahme ist das, was wir erreichen wollen.“
Einfach (k)eine Pause
„Kontinuierlich“ ist das Stichwort. Denn nicht selten beobachtet Julie von Bismarck, dass Pferde auf Sägespänen stehen und nur zwei Mal am Tag aus engmaschigen Heunetzen gefüttert werden. Dann verlängere sich zwar die Fressdauer, die Pausen seien allerdings noch so lang, dass die Pferde bei der nächsten Fütterung sehr hungrig seien.
Dementsprechend sind die kleinen Mengen aus engmaschigen Heunetzen nicht ausreichend. Stroh als Einstreu würde schon etwas Abhilfe schaffen. Oder die Raufuttergabe muss so strukturiert sein, dass keine Fresspausen entstehen, die länger als vier Stunden andauern. Bei einem einigermaßen gesättigten Pferd ist die Fütterung aus einem Heunetz unproblematischer. „Dadurch kann Langeweile vermieden werden“, betont Diplom-Agraringenieurin Gerlinde Hoffmann. Die Leiterin der Abteilung Umwelt und Pferdehaltung der Deutschen Reiterlichen Vereinigung sieht Heunetze, die so befestigt sind, dass sie kein Verletzungsrisiko erzeugen, als sinnvolle Fütterungshelfer an. Denn besonders bei Pferden, die dazu neigen, zu dick zu werden, haben Besitzer häufig keine andere Wahl, als die Fressdauer künstlich zu verlängern, ohne die Menge zu erhöhen. Denn im Grunde ist die Verdauung des ursprünglichen Steppentieres darauf ausgelegt, dass es nahezu rund um die Uhr dürres, trockenes, eher energiearmes Gras frisst. Gras und Heu hierzulande sind für die meisten Pferde wahre Dickmacher. Und das generelle Fazit, dass diese Tiere schlichtweg mehr Bewegung benötigen, hilft berufstätigen Hobbyreitern nur bedingt weiter.
In der Praxis werden Möglichkeiten gesucht, wie das Pferd seinem natürlichen Bedürfnis des stundenlangen Fressens nachkommen kann ohne dabei zuzunehmen. Die Industrie hat diesbezüglich einige Alternativen zu Heunetzen auf den Markt gebracht. „Stabile Plastikbehälter mit einem Löchergitter, das mit der Heumenge absackt, ermöglichen die natürliche Fresshaltung“, sagt Gerlinde Hoffmann. Auch Metallraufen, deren Streben vertikal verlaufen, können so angebracht werden, dass die Pferde in gesenkter Kopfhaltung fressen. „Es gibt auch sogenannte Gurtnetze mit nicht allzu kleinen Maschen“, erklärt Julie von Bismarck. Sie können ebenso an bodentiefen Behältern befestigt werden.
Ein gewisses Verletzungsrisiko bleibt allerdings bei allem, was dem Pferd in die Box gehängt oder bodennah befestigt wird. Aus Jürgen Martens Erfahrung die weitaus größeren Probleme: „Bei Heunetzen gibt es keine andere Möglichkeit, als sie so hoch zu hängen, dass kein Huf drin hängen bleiben kann.“
Dass Heunetze allerdings verhindern, dass das Heu zu sehr staubt oder verdreckt, ist ein Mythos. Denn fressen Pferde vom Boden, atmen sie weniger Staub ein, als in höherer Position, in der sie das Heu durch die ruckartigen Bewegungen immer wieder schütteln.
Heu im Netz oder nicht?
Bei all den Argumenten für eine uneingeschränkte Fütterung vom Boden, führt teils kein Weg am Heunetz vorbei. Doch der Pferdebesitzer sollte eben nicht nur wachsam sein, was Verletzungsrisiken angeht. Um dem Pferd das Herausrupfen des Heus zu erleichtern, bieten an den Wänden befestigte Netze mehr Stabilität. Die Maschen sollten so groß sein, dass das Pferd einen guten Büschel problemlos zupfen kann.
Heunetze, die auf Paddocks wie ein Pendel aufgehängt sind, fördern Frustpotenzial, da sind sich alle Experten einig. Besonders wenn die Pferde wirklich hungrig sind, geben diese Netze ihnen kaum die Chance, sättigende Mengen Heu zu bekommen. Sie sollten deshalb lediglich als Spielzeug eingesetzt werden, um Langeweile zu verhindern. Für viele Pferde werden sie allerdings sehr schnell uninteressant, wenn sie bei ihren Fressversuchen kaum Erfolg haben. Denn Spiele, bei denen man immer verliert, machen einfach keinen Spaß.