Dauerhaft schädlich: Blockaden
Wann Osteopathie dem Reiter helfen kann
Wenn der Reiter auf dem Boden der Tatsachen landet, dann ist das meistens ziemlich schmerzhaft. Vorausgehen muss nicht einmal ein dramatischer Sturz an einem Hindernis oder ein unkontrollierbares Steigen. Schon ein Pferd, das stolpert oder bockt, bringt seinen Reiter häufig in Balancenöte. Wer mit ein paar Prellungen und Schürfwunden davon kommt, hat großes Glück. Nicht selten werden Knochen in Mitleidenschaft gezogen. Logisch, sagt Dr. Oliver Wirtz, Unfallchirurg und Osteopath aus Coesfeld. „Durch die Fallhöhe, Geschwindigkeit und die Beschleunigung aufgrund der Bewegung des Pferdes wirken ziemlich starke Kräfte auf den menschlichen Körper.“ Die Auswirkungen eines Reitunfalls mit einem 600 Kilogramm schweren Pferd und einem etwa ein Zehntel so schweren Reiter zeigt sich aber häufig nicht direkt im ersten Moment. „Im Krankenhaus geht es um die Versorgung der Wunden, Brüche oder inneren Verletzungen“, erklärt Wirtz.
Weitreichende Kräfte
Doch die Ketten der Anatomie reichen deutlich weiter. „Die auf den Körper wirkende Kraft wird nicht an der Stelle gestoppt, an der sie eintritt“, beschreibt er. „Stürzt ein Reiter beispielweise über den Hals des Pferdes kopfüber und versucht, sich mit der Hand abzustützen, bricht häufig das Schlüsselbein.“ Hintergrund ist nicht, dass der Reiter direkt auf das Schlüsselbein gefallen ist, sondern dass die Gelenke im Arm blockieren und die Kraft weitergeleitet wird bis nach oben ins Schlüsselbein, dessen dünnes Knöchelchen dem Druck nicht mehr standhalten kann.
Aber das ist noch längst nicht alles. „Die Energie steckt quasi in jeder Gelenkblockade, die sich durch den Sturz gebildet hat. Die Kraft endet nicht im Bruch, sie geht hoch bis in die Wirbelsäule“, veranschaulicht Oliver Wirtz. Dass Störungen oft Meter entfernt vom eigentlichen Aufprall sitzen, ist den wenigsten Reitern allerdings bewusst. Nachdem der Bruch oder die Prellung ausgeheilt ist, halten sie sich für gesund und steigen wieder mit hohen Erwartungen aufs Pferd, „erreichen aber häufig nicht dasselbe Gefühl, weil ihr Körper noch nicht wieder einwandfrei regeneriert ist“, macht Wirtz deutlich. „Erst wenn man beginnt, die entstandenen Störungsketten zu lösen, schafft man es, den Patienten in den früheren Zustand zu bringen. Sonst bleibt etwas zurück.“
Ein komisches Gefühl
Hier kommen Osteopathie und Chirotherapie ins Spiel. „Als ich als Oberarzt in der Unfallchirurgie gearbeitet habe, habe ich mir die Patienten, deren Unfälle auf Blockaden schließen lassen konnten, gezielt rausgesucht“, berichtet Wirtz. „Denn die vermeintlich harmlos wirkenden Röntgenbilder standen meistens im Kontrast zu den Kräften und Geschwindigkeiten, die auf den Körper gewirkt haben. Das war häufig bei Reitunfällen der Fall.“ Allerdings, so sagt er sehr deutlich, gehe erst einmal der normale Genesungsweg für Wunden, Prellungen und Brüche voraus. Heißt: Die osteopathische Behandlung folgt erst, wenn man sich mindestens 14 Tage oder sogar länger erholt hat. „Dann bleibt häufig etwas zurück, das man nicht genau definieren kann. Ein komisches Körpergefühl oder Bewegungseinschränkungen zum Beispiel.“ Sie zeigen, dass noch Behandlungsbedarf besteht.
Ist man froh, Glück gehabt zu haben, bedeutet das nur, dass kein Knochen gebrochen ist. Hat sich irgendwo etwas verschoben, zeigt sich dies oft erst Jahre später in Beschwerden, die man dem Unfall gar nicht mehr zuweist. „Das kann sogar passieren, wenn das Pferd eine komische Bewegung macht, der Reiter aber oben bleibt“, betont Wirtz. Für viele gar nicht erwähnenswert, aber oft mit erheblichen Nachwirkungen.
Die Auswirkungen von Stürzen oder Tritten
Der Hintergrund bei Stürzen: Ist man nach einem Sturz vom Pferd verletzt, gilt man im Krankenhaus meistens als „der Reitunfall“. „Das ist aber sehr unpräzise“, sagt Oliver Wirtz. Zumindest für die weitere osteopathische Behandlung. „Ich muss nachvollziehen können, wie es passiert ist, um zu verstehen, welche Auswirkungen die Kräfte haben können. Deshalb habe ich in der Praxis ein altes Barbiepferd und eine Gelenkpuppe. Damit stellen die Reiter den Unfall nach.“ Klassiker sind der Sturz über den Hals durch ein bockendes Pferd oder durch ein Pferd, das stolpert und in die Knie geht. „Aber auch das steigende Pferd gibt es häufig. Dabei fällt der Reiter eher auf den Rücken oder dreht sich im Sturz und versucht, sich abzustützen“, beschreibt Wirtz. „Teils kommt auch noch ein direktes Trauma dazu, wenn das Pferd selbst stürzt und auf den Reiter fällt, oder den Reiter bei einem Sturz mit den Hufen trifft.“
Ein ebenso häufiger Fall ist das Verweigern vor dem Hindernis, das den Reiter ebenfalls über den Hals katapultiert, aber mit einer anderen Kraft als bei einem bockenden Pferd. „Wenn man sich beim Sturztraining von einem Holzpferd in den Sand fallen lassen soll, merkt man erst, wie viel Überwindung einen dies kostet“, bringt der Fachmann als Beispiel. „Bei einem tatsächlichen Sturz vom Pferd passiert alles im Bruchteil von Sekunden und mit einer ganz anderen Intensität. Da ist es kein Wunder, dass der Körper über die sichtbaren Verletzungen hinaus in Mitleidenschaft gezogen wird.“
Die Auswirkung bei Stürzen: „Neben Brüchen und häufig auch Kopfverletzungen, wird in vielen Fällen auch die Wirbelsäule in Mitleidenschaft gezogen“, beschreibt Wirtz. „Das sind natürlich alles Fälle, die erst einmal gut ausheilen müssen, bevor sich der Osteopath auf weitere Spurensuche begibt.“ Blockaden in Gelenken, Schiefstellungen durch ein verkantetes Becken und Unbeweglichkeiten können Folgen sein. Daraus resultieren wiederum Muskelverspannungen und -verkürzungen, die die Probleme manchmal sogar noch verstärken.
Der Hintergrund bei Tritten: Ganz oft sind es aber auch die statischen Unfälle, die rund ums Pferd passieren, wie der Tritt auf den Fuß, gegen das Bein oder auch der Ruck am Führstrick, wenn das Pferd erschrickt und der Reiter versucht, es festzuhalten. „Auch sie können nicht nur offensichtliche Verletzungen hervorrufen, sondern weitreichendere Folgen haben, die erst Monate später zu Problemen führen“, betont der Osteopath.
Die Auswirkung bei Tritten: „Störungen im Gewebe hinterlassen Spuren“, sagt Oliver Wirtz. Der Tritt auf den Fuß sorgt erst einmal für eine Prellung, kann aber auch die kleinen Zehengelenke bis hin zum Fußgelenk empfindlich stören. Tritt das Pferd gegen den Oberschenkel des Reiters, kann dies bis ins Hüftgelenk wirken. „Der Ruck am Führstrick betrifft Finger-, Hand-, Ellbogen- oder auch das Schultergelenk und kann sogar Störungen in der Halswirbelsäule verursachen“, berichtet der Experte. „Wenn man sieht, wie ein Osteopath hingegen mit verhältnismäßig leichtem Druck arbeiten kann, ist es kein Wunder, dass bei dieser Kraft viel passieren kann.“ Allerdings, so sagt Wirtz klar, könne schon das versehentliche Überspringen einer Stufe auf der Treppe Einfluss auf den Körper haben. Der Reitsport bringt zwar ein gewisses Risiko mit sich, aber kein größeres als andere Sportarten, die mit Krafteinwirkung, Geschwindigkeit und Beschleunigung zu tun haben.
Nach kleinen Zwischenfällen
Der Hintergrund: Wer mal in seinem Gedächtnis kramt, wird ganz sicher drauf stoßen: Ein abruptes Abbremsen aus vollem Galopp, das er vor allem im Nacken gespürt hat. Oder ein Stolperer im Trab, der einem so richtig unangenehm in die Wirbelsäule drückte. „Bei Reitern gibt es immer eine Handvoll Unfälle, die eigentlich gar keine waren, sich aber langfristig bemerkbar machen können“, sieht Oliver Wirtz in der Praxis.
Die Auswirkung: „Der Körper kompensiert viel, aber nach Jahren kommen dann Klassiker wie Rückenschmerzen, Migräne oder Ohrgeräusche zum Vorschein, die man gar nicht mit dem Vorfall in Zusammenhang bringt. Aber er kann durchaus dahinterstecken“, beschreibt der Mediziner und erklärt: „Der Mensch sieht den Zusammenhang ungefähr in einem Zeitraum von plus drei Wochen nach dem Unfall. Er fällt beispielsweise böse auf sein Steißbein und ahnt, dass die Rückenschmerzen drei Wochen später daher kommen können. Der Körper ist aber 24 Stunden mit der Korrektur beschäftigt und meldet sich erst, wenn es gar nicht mehr geht. Deshalb verstreicht häufig deutlich mehr Zeit.“ Es können unter Umständen kleine Unfälle, die vor Jahren passiert sind, der Stein des Anstoßes sein. „Deshalb reicht es nicht, in der Kausalkette nur das letzte Glied zu behandeln. Denn oft steckt noch viel mehr dahinter.“
Nach Geburten
Der Hintergrund: Nicht nur Babys müssen bei ihrer Geburt körperlich einiges einstecken. „Die Körper der Mütter leiden, wie jeder weiß. Aber wenige denken daran, dass sich durch den Druck im Becken die Wirbelsäule vereinfacht gesprochen, verzogen haben kann“, gibt Wirtz zu bedenken.
Die Auswirkung: Das Kreuzbein rutscht quasi zwischen die verriegelten Darmbeingelenke und verursacht ein Stauchtrauma. „Das wirkt sich auf den Nervenkanal in der Wirbelsäule aus, was sogar neurologische Erkrankungen zur Folge haben kann, wie den Wochenbett-Blues“, beschreibt der Mediziner. „Aus Osteopathensicht ist es ein ähnlicher Notfall wie ein Schleudertrauma.“ Wie Wirtz beschreibt, schaukele der Osteopath das Kreuzbein frei.
Übrigens kann dies auch Folge eines Sturzes sein, bei dem man auf den Füßen landet.
Zur Prophylaxe
Der Hintergrund: „Die Idee von Osteopathie ist eigentlich, einmal im Jahr prophylaktisch alle Dysfunktionen, die man über die Zeit angesammelt hat, zu beheben“, erklärt Dr. Oliver Wirtz.
Die Auswirkung: Jede Blockade kann dazu führen, dass man ein verändertes Körpergefühl hat. Aber sie kann auch Schmerzen oder Schonhaltungen nach sich ziehen. Beim Reiten zeigt sich außerdem, dass Lektionen auf den beiden Händen deutlich unterschiedlich gelingen. „Natürlich ist jedes Lebewesen in gewisser Weise asymmetrisch. Das ist normal. Aber durch Blockaden nimmt die Asymmetrie zu und bringt Probleme mit sich“, sagt Wirtz. „Viele Menschen beginnen erst, sich um sich zu kümmern, wenn sie schon massive Probleme haben. Dabei kann man viel früher ansetzen.“ Es kann nur guttun.
Zwei Selbsttests zum Nachmachen:
Test 1: Bewegender Moment?
Der sogenannte „Listening-Test“ ist ein Test, den jeder Reiter ganz einfach auf der Stallgasse ausprobieren kann, um festzustellen, ob es Blockaden in seinem Körper gibt. „Listening-Test“ deshalb, weil man ins Gewebe hineinhört. Es braucht nur eine zweite Person, die genau beoboachtet.
Und so geht‘s: Der Reiter stellt sich auf einen festen Untergrund, die Füße eng nebeneinander. Er bleibt in sich gerade. Die zweite Person legt ihre Hand als Fixpunkt leicht auf den Kopf des Reiters. Vorsicht: Nicht fest drücken! Der Reiter schließt nun die Augen.
Was man sieht: „Für ungefähr eine Sekunde kann man erkennen, ob der Reiter ein osteopathisches Problem hat“, beschreibt Oliver Wirtz. Und zwar dann, wenn sich der Reiter, dessen Balancegefühl durch die geschlossenen Augen kurzfristig ausgeschaltet wird, deutlich nach vorne, nach hinten oder zur Seite bewegt. „Ein Reiter, der sich im Oberkörper stark bewegt, hat meistens ein Problem im Becken. Kippt er tendenziell nach vorne, hat er oft ein organisches Problem. Ein Schleudertrauma legt sich wie ein Mantel über alle anderen Dysfunktionen. Besteht eines, kippt der Reiter stark nach hinten.“ Bei geöffneten Augen kann der Körper das ausgleichen. Aber auch andere Dysfunktionen wie ein blockiertes Becken zeigen sich anhand des Tests. Sobald sich der Reiter in der ersten Sekunde mit geschlossenen Augen tendenziell in eine Richtung bewegt, wird es Zeit, einen Termin beim Osteopathen zu machen.
Test 2: Blockade im Becken?
Der zweite Test, den jeder Reiter selbst ausprobieren kann, zielt auf das Erkennen von Blockaden im Becken ab. Eine sehr häufige Nachwirkung von Stürzen oder auch einfach nur von unangenehm zu sitzenden Bocksprüngen. „Nach einem schweren Sturz gehört ein Reiter in ärztliche Behandlung“, sagt Oliver Wirtz noch einmal ganz deutlich. „Hat er aber später noch das Gefühl, dass er in sich nicht gerade ist, kann er mit diesem Test leicht feststellen, ob das Becken die Ursache ist.“
Und so geht‘s: Der Reiter liegt flach auf dem Boden oder auf einer Liege. Eine zweite Person schaut, ob er in sich gerade ist. Dann stellt der Reiter seine Füße auf und hebt drei bis vier Mal hintereinander das Becken an, um alle Muskeln einmal anzuspannen. Anschließend legt er die Beine wieder flach auf den Boden. Die zweite Person prüft, auf welcher Höhe und welcher Länge die beiden Fersen im Vergleich sind. „Viele Menschen haben unterschiedlich lange Beine. Eine Asymmetrie ist also normal“, erklärt Oliver Wirtz. Nun hebt der Reiter seinen Oberkörper aus dem Rücken und dem Becken an in den Sitz. Die Beine bleiben lang ausgestreckt.
Was man sieht: „Verändert sich das Verhältnis der Beinlängen, zeigt dies, dass das Becken blockiert ist“, gibt Wirtz zu bedenken. Aber auch schon, wenn im Liegen bei locker ausgestreckten Beinen, ein Fuß zur Seite kippt, der andere aber gerade bleibt, kann man davon ausgehen, dass ein Gelenk blockiert ist.