Die Skala der Ausbildung, Teil 2
Die Losgelassenheit des Pferdes fördern
Der Zauberkünstler und „Körpersprache-Dolmetscher“ Thorsten Havener hat einmal gesagt: „Alle Macht kommt von innen.“ Dies klingt ebenso abstrakt wie der Begriff Losgelassenheit. Sich deshalb aber nicht damit zu beschäftigen, wäre ein großer Fehler. Denn sowohl der Satz als auch der Begriff sind eine Zauberformel, die einem das Leben sowie Reiter und Pferd das Reiten erleichtern, wenn sie richtig verstanden werden. Was steckt tatsächlich hinter der Losgelassenheit? Warum ist sie so elementar wichtig für die Reiterei? Und wie können wir unser Pferd effektiv darin unterstützen loszulassen? Der Reihe nach.
„Unter Losgelassenheit verstehe ich die Zufriedenheit und Entspannung des Pferdes unter dem Sattel. Es hat Vertrauen zur Umgebung und zu seinem Reiter“, definiert Reitmeister Martin Plewa. Nur wenn das Pferd diese Kriterien erfüllt, ist es überhaupt in der Lage, motiviert mitzuarbeiten. Wird dieser zweite Schritt der Skala der Ausbildung allerdings übersprungen, wirkt sich das automatisch negativ auf das Training und den kompletten weiteren Ausbildungsweg des Pferdes aus. Auf den Punkt gebracht: Ohne Losgelassenheit funktioniert ein feinfühliges, harmonisches Miteinander zwischen Reiter und Pferd nicht.
Und das beginnt beim Reiter. „Ein Pferd kann niemals losgelassen sein, wenn es der Reiter nicht ist“, gibt Pferdewirtschaftsmeisterin Uta Gräf zu bedenken. Der erste Schritt, um dem Pferd Stück für Stück zur Losgelassenheit zu verhelfen, ist also, sich selbst zu entspannen. Doch es ist nicht damit getan, sich einfach lässig „hängen zu lassen“. Die Kunst ist es, An- von Verspannung zu unterscheiden. Ein Thema, das auch beim Yoga eine große Rolle spielt. „Es geht um eine innere Stabilität – sowohl beim Yoga als auch beim Reiten. In dieser dann entspannen zu können, ist das Geheimnis“, erklärt Yoga-Expertin Angelika Beßler. „Nur durch Anstrengung und der damit verbundenen Verspannung der Muskulatur kann ich keinen positiven Effekt erzielen. Aber ohne Anstrengung und nur durch pure Entspannung schaffe ich es auch nicht.“ Die Muskulatur so gezielt einzusetzen, dass sie angespannt den richtigen Effekt erzielt, aber nicht verspannt wird, ist es am Ende auch, was ein Pferd losgelassen macht. Verbissenheit und Krampf sind fehl am Platz.
Finden Sie die innere Mitte
Das Gefühl, An- und Verspannung genau unterscheiden zu können, hängt von der eigenen Wahrnehmung und der des Pferdes ab. Dafür müssen erst einmal zwei Kriterien erfüllt werden: das Gleichgewicht und eine gleichmäßige, ruhige Atmung. Sitzt der Reiter nicht im Gleichgewicht, verkrampft er sich. Bewegt sich das Pferd unter dem Reiter nicht im Gleichgewicht, verspannt es sich ebenfalls. „Ich lerne beim Yoga, die kleinen Bewegungen, die mein Körper macht, auszugleichen“, erläutert Angelika Beßler. „Dadurch bekomme ich Stabilität und nehme meine einzelnen Muskeln besser wahr. In der Balance gelingt es mir dann, das Anspannen der Muskeln genauer zu kontrollieren.“
Der Reiter muss außerdem die Bewegung des Pferdes ausgleichen, um sich und das Pferd in Balance zu halten. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen auf einem Gymnastikball. Nur, wenn Sie die Balance halten, sitzen Sie angenehm. Schritt eins zum Erreichen der Losgelassenheit heißt also: Überprüfen Sie Ihr Gleichgewicht! Denn nur, wenn Sie im Gleichgewicht sind, kann Ihr Pferd dies auch sein. Schritt zwei ist die Wahrnehmung des eigenen Atemrhythmus. „Wenn der Atem ruhig ist, beruhigt sich auch der Geist“, begründet Angelika Beßler. Dies kann wahre Wunder bewirken, wenn das Pferd durch äußere Einflüsse angespannt und hektisch ist. Atmet der Reiter ruhig und entspannt seine Muskulatur, gibt er dem Pferd Sicherheit. „Wer sich angewöhnt, sich und sein Pferd genau zu beobachten, wird er auch irgendwann ein Gefühl dafür entwickeln, in welchen Situationen das Pferd verkrampft und was ihm hilft, sich zu entspannen“, sagt Angelika Beßler.
Bezogen auf das Pferd ist ein passend gewähltes Tempo ein weiteres wichtiges Kriterium, um die Basis für die Losgelassenheit zu legen. Und dies ist individuell vom jeweiligen Pferd abhängig, sollte aber lieber ruhiger gewählt werden als zu hoch. Denn in einem langsameren Tempo fällt es dem Pferd leichter, seinen Takt zu finden, der erste Punkt auf der Skala der Ausbildung. „Viele Reiter meinen, dass sie ihre Pferde besonders vorwärts treiben müssen, wenn diese anfangs nicht vorwärts gehen wollen. Doch der mangelnde Vorwärtsdrang resultiert daraus, dass sich das Pferd nicht loslässt“, erklärt Martin Plewa. „Lieber sollte der Reiter das individuelle Tempo des Pferdes anfangs annehmen. Denn wenn es loslässt, werden die Bewegungen von sich aus schwungvoller.“
Die Skala der Ausbildung
Der Takt – warum er das Allerwichtigste ist
Beim Reiten ist der Takt die entscheidende Grundlage. Wenn er nicht stimmt, funktioniert gar nichts. Wie Sie und Ihr Pferd in den richtigen Takt kommen, erklären unsere Experten Uta Gräf und Thies Kaspareit. Viele Übungen erleichtern das Nachreiten.
weiterlesen →Lässt ein Pferd innerlich los, ist dies deutlich zu erkennen. Seine Bewegungen werden wie erwähnt raumgreifender, es tritt zunehmend mit der Hinterhand unter den Schwerpunkt, sein Rücken schwingt, und der Reiter kommt besser zum Sitzen. Der Schweif wird leicht getragen und pendelt, das Pferd schnaubt ab und beginnt zu kauen. „Es muss sich am Maul nicht übermäßig viel Schaum bilden“, sagt Martin Plewa. „Es geht vielmehr darum, dass sich die Kiefer- und Zungenmuskulatur bewegen. Denn alles was starr ist, kann nicht entspannen.“
Entscheidende Körperhaltung
Mit diesen Verhaltensweisen einher geht das Dehnen des Pferdehalses nach vorne abwärts. „Es muss gar nicht sehr tief nach unten sein“, sagt Plewa. Denn der Hals dient als Balancierstange, und es soll nicht erreicht werden, dass der Schwerpunkt des Pferdes stärker auf die Vorhand verlagert wird. Wichtig sei laut Plewa nur, dass das Pferd in dieser Phase beginne, die Anlehnung zu suchen und ans Gebiss heranzutreten. Denn was viele Reiter nicht beachten: Erst nach dem Punkt Losgelassenheit folgt auf der Skala der Ausbildung der Punkt Anlehnung. „Das Pferd muss sich an den Zügel herandehnen“, betont der Reitmeister noch einmal.
Natürlich ist es die Vorstellung der Perfektion, die einen Reiter motiviert. Aber anstatt sein Pferd anhand eines Bildes in ein Schema zu pressen, sollte er sich vielmehr darauf einlassen, ein Gefühl für die Zusammenhänge zwischen seiner eigenen Körperhaltung und der seines Pferdes zu entwickeln. Dabei geht es nicht nur um das Gleichgewicht, sondern auch um die Stimmung, die er mit seinem Körper ausdrückt. „Depressionen gehen einher mit einer zusammengesunkenen Körperhaltung“, sagt Angelika Beßler. „Dem Menschen fehlt dann jegliche positive Grundspannung.“ Die Schlussfolgerung: Wenn Sie eine positive Körperspannung aufbauen, hellen Sie damit nicht nur Ihre Stimmung auf, sondern Sie vermitteln dieses positive Gefühl auch Ihrem Pferd. Uta Gräf sieht man auf dem Pferd fast immer lächeln. Und ihre Pferde wirken durchweg entspannt und motiviert.
Versuchen Sie auch nach einem stressigen Tag, ein positives Gefühl vor dem Reiten aufzubauen. Da kann es schon helfen, wenn Sie sich eine Minute an den Kopf des Pferdes stellen und es streicheln. Aber auch im Sattel sollten Sie sich immer wieder auf Ihre Atmung, die Muskelentspannung und ein Lächeln besinnen. „Ich lasse meine Schüler auch gerne mal ein Liedchen summen“, gibt Martin Plewa noch als Tipp und schmunzelt. Losgelassenheit heißt übersetzt eben auch „Spaß haben“.