Leseprobe: Reiten in neuen Dimensionen
Seitengänge Schritt für Schritt erarbeiten
Mehr Kraft, mehr Ausdruck, mehr Gleichgewicht und Geschmeidigkeit. All das bringen Seitengänge. Ihr oberstes Ziel: Geraderichtung. Der vorletzte Punkt der Skala der Ausbildung und somit der Weg zur Versammlung. Marcus Hermes fügt hinzu: „Sie kräftigen die innere Bauchmuskulatur und dehnen die äußere Halsmukulatur.“
Seitengänge beginnen da, wo das Pferd in gleichmäßiger Längsbiegung vorwärts-seitwärts tritt. Das passiert zum ersten Mal ansatzweise im Schultervor und irgendwann in Vollendung in der Traversale, die Königin der Seitengänge. „In der Traversale kommt alles zusammen, was der Reiter im Sattel gelernt hat“, fasst Berufsreiterin und Pilates-Trainerin Ulrike Maak zusammen. Den Grundstein dafür legt der Reiter jedoch schon viel früher. Indem er auf dem Zirkel reitet. „Das ist schon eine geraderichtende Lektion“, sagt Dressurausbilder Marcus Hermes, der sich Anfang des Jahres auf dem Gestüt Haus-Giesking im Münsterland selbstständig gemacht hat. Wir haben ihm beim Training über die Schulter geschaut. Er und seine Bereiterin Anna Muster zeigen, wie Sie sich Seitengänge Schritt für Schritt erarbeiten können. Vierbeinige Unterstützung haben sie sich vom 13-jährigen Fuchswallach L‘Avignon und dem zwölf Jahre alten Louisdor Preis-Finalisten Quantum Vis MW geholt.
Stichwort: Längsbiegung
Längsbiegung lautet das Zauberwort. Dabei ist die Wirbelsäule des Pferdes vom Genick bis zum Schweif gebogen wie eine Banane. Mal mehr mal weniger, aber immer gleichmäßig. Vor- und Hinterhand sind aufeinander ausgerichtet. Das Pferd bewegt sich wie auf einer Schiene. Der Schlüssel dafür liegt in der diagonalen Hilfengebung. Dabei treibt der Reiter das Pferd mit seinem inneren Schenkel an den äußeren Zügel heran, um es einzurahmen – ob auf dem Zirkel, in der Volte, beim Schulterherein oder in der Traversale. Marcus Hermes beginnt schon früh damit, seine Pferde mit der diagonalen Hilfengebung vertraut zu machen. „Um an der natürlichen Schiefe zu arbeiten und zu testen, wie die Pferde auf den inneren Schenkel und den äußeren Zügel reagieren“, erklärt er.
Doch einfach auf den Zirkel oder in eine Volte abzuwenden ergibt noch keine gute Längsbiegung. Ulrike Maak vergleicht diese mit einer Dehnspannung, bei der das Pferd gebogen, aber auch langgezogen sein soll: „Ansonsten kommen wir in dieses Einkringeln, bei dem der Hals des Pferdes mehr gebogen ist als der restliche Körper“, sagt sie. „Das Gegenteil davon ist eine kraftvolle Dehnspannung mit einer Vorwärts-Aufwärts-Bewegung, die gleichmäßig durchs Pferd geht.“ Auf ihrem YouTube-Kanal „Lieblingsreiter“ zeigt Ulrike Maak eine Übung, mit der jeder nachempfinden kann, wie sich die korrekte Längsbiegung für das Pferd anfühlen könnte.
Und das geht so: Setzen Sie sich auf einen Stuhl neben einen Tisch. Nehmen Sie den vom Tisch abgewandten Arm nach oben und dehnen sich, indem Sie ihn wie ein C über den Körper halten. Drücken Sie sich mit der anderen Hand leicht am Tisch ab. Sie werden spüren, wie sich Ihr Oberkörper C-förmig nach oben hin aufspannt und Ihre äußeren Rippen sich auffächern. Nehmen Sie nun die Hand vom Tisch weg. Sie werden direkt spüren, wie Ihre Körperhaltung instabil wird. Die Hand, mit der Sie sich am Tisch abgestützt haben, ist vergleichbar mit dem inneren Schenkel des Reiters. Seine Aufgabe ist es, dem Pferd Stabilität zu geben. Nichts anderes meint die diagonale Hilfengebung. Und ohne die geht im Sattel gar nichts. „Das Pferd balanciert zwischen dem inneren Schenkel und dem äußeren Zügel“, verdeutlicht Maak.