Das Pferd von innen
Das Gehirn: Die Schaltzentrale
Kleiner Wicht
Das Gehirn des Pferdes ist ein Zwerg. Zwischen 400 bis 700 Gramm wiegt es, also gerade mal 0,1 Prozent des gesamten Körpergewichts! Zum Vergleich: Beim Menschen bringt das Gehirn zwei Prozent des Körpergewichts auf die Waage.
Schichtweise
Im gesamten Gehirn gibt es Milliarden Nervenzellen. „Sehr dicht sind sie unter anderem im Großhirn und im Kleinhirn in gewissen Schichten angesiedelt“, sagt Professor Dr. Vinzenz Gerber von der Vetsuisse-Fakultät der Uni Bern. In diesen Schichten geht informationstechnisch die Post ab. Die Verknüpfungen, wo Nervenzellen und ihre Bahnen an die nächste Nervenzelle andocken, heißen Synapsen.
Windungen mit System
„In seinem groben Aufbau ist das Gehirn des Pferdes wie bei allen Säugetieren: Es besteht aus Großhirn, Kleinhirn und dem Stammhirn mit seinem anschließenden Hirnstamm. Danach folgt das Rückenmark, das nicht mehr zum Gehirn gehört“, beschreibt Prof. Gerber. Unzählige Falten sorgen dafür, dass das Gehirn in seiner Oberfläche einem Blumenkohl gleicht. Dabei ist das Kleinhirn noch feiner gezeichnet als das Großhirn.
Hardware aus dem Mutterleib
Der größte Entwicklungsprozess des Pferdegehirns findet im Mutterleib statt. „In der Frühentwicklung des Embryos und des Föten wird quasi die Hardware hergestellt, sodass das Fohlen bei der Geburt schon sehr fertig ist. Die meisten groben Verbindungen müssen dann funktionieren“, sagt Prof. Vinzenz Gerber. „Das Pferd als Nestflüchter muss nach der Geburt aufstehen und wegrennen können.“ Die „Software“ wird hingegen intensiv in den ersten Lebenstagen sowie im gesamten Fohlen- und Jugendalter programmiert. „Diese Programmierung wird das ganze Leben weiter bearbeitet oder verfeinert, es kommen neue Verknüpfungen dazu, andere werden nicht mehr gebraucht“, erklärt Gerber weiter.
Aufgabenverteilung
„Das Großhirn des Pferdes ist nicht so komplex wie das des Menschen – das Pferd kann ja nicht rechnen und schreiben – aber ansonsten arbeitet das Pferd in seinem Großhirn wie wir. Es verarbeitet alle Sinneseindrücke und macht sich so ein Bild seiner Umwelt, seiner sozialen Interaktionen mit anderen Pferden und nicht zuletzt mit uns als Reiter“, sagt Gerber. Das Kleinhirn ist für die motorische Feinarbeit zuständig. „Beim Pferd als Reittier ist es extrem wichtig, dass es sehr gut koordiniert ist“, findet der Experte. Im Stammhirn geht es mehr ums „Grobe“: „Einfache Bewegungsabläufe bis zu den Vitalfunktionen werden hier gesteuert“, sagt Gerber. So reguliert das Stammhirn Atmung und Blutdruck.
Meisterleistung aus dem Oberstübchen
Beim Reiten verarbeitet das Pferd die äußeren Eindrücke und die Reiterhilfen in Millisekunden. Es entscheidet, wie es darauf reagiert und ob es, wenn nötig, den Reiter korrigiert, etwa den Galoppsprung in der Kombination doch noch verkürzt, sich über dem Oxer nochmal streckt oder bei ungenauen Hilfen doch richtig angaloppiert.
Krank im Kopf
Die Palette der Hirnkrankheiten ist so breit wie selten. „Sie reicht von Tumorerkrankungen über erblich bedingte Kleinhirnprobleme bis hin zu infektiösen Krankheiten. Im Zusammenhang mit der Klimaveränderung ist häufiger vom West-Nil-Virus die Rede“, berichtet Prof. Gerber. Neben diesen Raritäten haben es Tierärzte häufiger mit dem Hirntrauma nach einem Unfall zu tun, es ist vergleichbar mit der Gehirnerschütterung. „Ein Hirntrauma kann schon am nächsten Tag besser sein, man kann medikamentös sehr gut einwirken, um zum Beispiel ein Hirnödem zu bekämpfen.“ Die Chancen auf eine vollständige Wiederherstellung stehen sehr gut. Dramatischer steht es, wenn eine Hirnblutung auftritt, „die kann fatal enden, sodass wir nichts mehr für das Pferd tun können“.
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Die Kapazität des Gehirns ist auch beim Pferd enorm. Aber wie der Mensch kann auch das Pferd nur in begrenzter Geschwindigkeit lernen. „Wollen wir zu schnell zu viel, ist das Pferd überfordert, aber das hat nichts mit der Größe seines Gehirns zu tun, sondern damit, dass es nicht so schnell so viel verarbeiten kann und dann Stress entsteht. Zu viel Stress wiederum ist schädlich für das Lernen. Ein bisschen Stress dagegen ist förderlich für einen Lerneffekt, man darf die Pferde also durchaus herausfordern“, sagt Gerber. Eine stimulierende, günstige Umgebung mit Sozialkontakten und gleichzeitig geregelte, verlässliche Abläufe, das seien die optimalen Lern-Nährstoffe für das Gehirn des Pferdes, so der Experte.
Alle zusammen, nur einer allein
Der einzige Teil des Gehirns, der unabhängig funktionieren kann, ist das Stammhirn. „Im Koma sind Groß- und Kleinhirn ausgeschaltet. Der Körper überlebt dank des Stammhirns, das die lebenswichtigen Funktionen aufrechterhält“, erklärt Prof. Vinzenz Gerber. Im Wachzustand arbeiten dagegen alle zusammen.
Geniales Raum-Gedächtnis
„Generell können sich Pferde gut erinnern und haben eine sehr gute räumliche Wahrnehmung“, sagt Prof. Gerber. Verhaltensforscher fanden in einem Experiment am Schweizer Nationalgestüt Avenches heraus, dass Pferde sich auch nach einem Jahr noch sehr genau erinnerten, wo einst die versteckten Futterkübel standen – obwohl kein Eimer mehr dort war.
Dieser Artikel ist erstmals erschienen in Reiter Revue 10/2015.
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