Umdenken fürs Pferdewohl
Veränderung beginnt mit Chaos
Kennen Sie den Begriff „social licence to operate“? Er ist öfter zu hören in der Welt der Wirtschaft, gerade jetzt in Zeiten des Klimawandels. „Bei der ‚social licence to operate‘ geht es darum, dass die Gesellschaft eine unausgesprochene Erlaubnis erteilt, bestimmte Aktivitäten auszuüben. Aber eben nur so lange, wie diese Aktivitäten sich mit den geltenden gesellschaftlichen Werten und Normen vereinbaren lassen. Und genau diese Werte und Normen verändern sich gerade sehr rasant“, sagt Inga Wolframm, Sportpsychologin und Professorin für nachhaltigen Pferdesport aus den Niederlanden. „Als Gesellschaft sind wir auf der Suche nach anderen Umgangsformen, mit unseren Mitmenschen, aber auch mit unseren Tieren. Und jetzt ist eben auch der Reitsport dran und wird kritisch unter die Lupe genommen.“
Routinen brechen
Um aus seinen Routinen herauszukommen, braucht es manchmal einen Trigger von außen. Besonders dann, wenn es anfängt weh zu tun. Die Klimaveränderung fängt aufgrund der heißen Sommer an, weh zu tun, die Energiekosten fangen an weh zu tun. Deshalb sucht man öffentlich nach Lösungen. „Der Druck dieser ‚social license to operate‘ macht uns im Pferdesport Angst, dass wir etwas für uns Wesentliches verlieren könnten“, sagt Inga Wolframm.
Es ist die aktuelle Situation, in der wir stecken und die sich für kaum einen wirklich gut anfühlt. „Wir müssen mehr Wissen vermitteln“, sagen viele. Nun, das Wissen liegt ja eigentlich parat, in Form von Magazinen, Büchern, Filmen – warum greifen zu wenige zu? Wissen vermitteln sei zwar enorm wichtig, sagt Inga Wolframm, aber es reiche einfach nicht aus. „Es braucht eine Verhaltensveränderung.“ Dabei sei es wichtig, klein anzufangen. Damit jeder die Verhaltensveränderung mitgehen kann – und will. Das Modell der Verhaltensveränderung ist erforscht und relativ einfach. Es beinhaltet einige Fragen. In Sachen Pferdewohl könnte es zum Beispiel mit der Erkenntnis „Für das Pferdewohl sind Sozialkontakte wichtig“ losgehen. Die folgenden Schritte:
- Kapazität, Können, Wissen: Was müsste ich darüber wissen? Was muss ich können?
- Soziales und physisches Umfeld: Was brauche ich von meinem Umfeld? Kriege ich das, was ich brauche (oder lachen mich alle aus?)
- Motivation: Sie erst bringt einen dazu, sein Verhalten zu verändern. Das bedeutet: Habe ich mir etwas angewöhnt, warum ich Sachen mache, eine Routine, die sich gut anfühlt?
Routinen sind feine Begleiter, jeder Reiter sollte Routinen mit seinem Gewohnheitstier Pferd pflegen. „Routinen kosten uns keine extra Energie“, sagt Inga Wolframm, „aber eine neue Gewohnheit zu entwickeln, ist anstrengend. Weil ich über jeden neuen Schritt erst mal neu nachdenken muss. Etwas anders zu machen, ist auch unheimlich. Es fühlt sich unsicher an, es fühlt sich auch an, als ob man an sich selbst zweifelt. Denn wir haben das immer schon so gemacht, es ist unsere Identität, so haben wir das gelernt, so sehen wir uns als Reiter – und jetzt sagt einer, das musst du anders machen. Und der Reiter denkt sich, ‚bisher bin ich doch gut damit gefahren’. Deswegen finden viele Reiter diese Art der Veränderung auch schwierig.“
Hinzu kommt das Umfeld, das genauso seine Identität schützen will. „Wir haben uns alle miteinander im Reitsport ein Fundament gebaut, von dem wir dachten, dass es ok ist. Und auf einmal sagen Leute, die nichts mit unserem Sport zu tun haben: Was macht ihr da eigentlich mit den Pferden? Sie stellen unseren Sport in Frage. Wir haben uns lange dagegen gewehrt und gesagt, ‚ihr habt ja keine Ahnung’. Doch jetzt kommen die Stimmen selbst aus unserem eigenen Umfeld.“
Der amerikanische Sozialwissenschaftler Damon Centola hat festgestellt: Es braucht mindestens 25 Prozent von einer Gruppe, um eine Veränderung in Gang zu setzen. „Ich glaube, die haben wir beinahe erreicht“, meint Inga Wolframm und erklärt: „Im Moment fühlt sich alles noch chaotisch und unsicher an. Aber Veränderung beginnt mit Chaos. Wir erleben das gerade in ganz vielen Bereichen.“ Für Veränderung brauche es Motivatoren von außen wie Lob und Anerkennung im Positiven, manchmal sei es allerdings auch wichtig, deutliche Regeln aufzustellen. Vor allem dann, wenn die Verhaltensveränderung schwierig ist.
Für die eigene Motivation, und um nicht in alte Fahrwasser zu gelangen, sollte ein Reiter sich reflektieren können und dann konkrete Ziele stellen. Zum Beispiel, wenn es um den Nasenriemen geht. Inga Wolframm spielt das Procedere an diesem Beispiel durch: „Warum muss ich den Nasenriemen eigentlich so eng schnallen? Weil ich will, dass das Pferd das Maul nicht aufsperrt? Ok. Aber eigentlich bedeutet das doch, dass ich hier gerade eine Abkürzung nehme, etwas überspiele, denn eigentlich sollte das ja auch ohne festgezurrten Nasenriemen gehen. Was muss ich also wissen und können? Was brauche ich für ein Umfeld oder von meinem Umfeld?“
Der Trigger macht‘s
Pferdewohl fängt zu Hause an – bei jedem einzelnen unter uns. „Jeder kann klein anfangen. Damit es zu managen bleibt. Sonst fühlt man sich schnell überfordert. Man muss sich aber auch damit abfinden, dass das neue Verhalten erst mal ungemütlich wird“, macht Inga Wolframm klar. Dieses Modell von Veränderung funktioniere im Kleinen wie im Großen. Klar ist: Jede Motivation, etwas zu verändern braucht einen Trigger. Im großen Kontext rund ums Pferdewohl ist das die „Social licence to operate“. Im Kleinen ist es vielleicht, eine bessere Prüfung zu reiten, geschmeidiger aussitzen zu können. Den besten Trigger nennt Inga Wolframm: „Ich liebe mein Pferd – ich will, dass es ihm gut geht.“
Dieser Artikel ist erstmals erschienen in der Reiter Revue-Ausgabe 10/2022.
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