Interview: Tierarzt Dr. Kai Kreling über die Kritik an der Hausbesuchspauschale
„Wir bluten im Moment aus“
Herr Dr. Kreling, der Kleintierhalter bringt sein Tier in der Regel in die Tierarztpraxis – beim Pferdebesitzer verhält es sich normalerweise genau andersherum, da fährt der Tierarzt zum Stall. Warum wird – wie bei Kleintieren – auch bei Pferden nach der neuen GOT die Hausbesuchspauschale berechnet?
Der Wortlaut heißt in der neuen GOT: „außer landwirtschaftliche Nutztiere“. Das Thema ist, dass beim Pferd die Situation völlig anders ist als in der Landwirtschaft, wo der Tierarzt in einen Betrieb fährt, um dort einen ganzen Bestand zu behandeln. In der Regel sind Pferde Einzeltiere. Einzeltiere erfordern einen deutlich höheren Aufwand, sowohl in der Planung des Termins als auch in der Planung der sogenannten Auto-Apotheke. Die Hausapotheken-Verordnung besagt, dass die Auto-Apotheke nur den Tagesbedarf beinhalten darf.
Das heißt, es handelt sich bei der Hausbesuchspauschale ähnlich wie beim Handwerker um eine Art Rüstgebühr. Das wurde in der Vergangenheit immer so ein bisschen mit dem Wegegeld vermischt, aber das Wegegeld ist ja nur eine Entschädigung und nicht eine Bezahlung für einen besonderen tierärztlichen Dienst. Wenn wir das Wegegeld richtig kalkulieren würden, würden wir deutlich über die 3,50 Euro für den Doppelkilometer kommen. Diese 3,50 Euro sind überhaupt nicht angerührt worden. Man hat aber gesagt: Ok, der Tierarzt hat einen deutlichen Mehraufwand, wenn er rausfährt als wenn das Tier in die Klinik oder Praxis kommt – genau wie beim Kleintier auch.
Das Wegegeld lässt sich aber auf mehrere Pferdebesitzer in einem Stall aufteilen – warum geht das nicht bei der Hausbesuchspauschale?
Das eine ist eine reine Kostenentschädigung und hat nichts mit Leistungen zu tun. Das andere sind Ziffern und Ziffern beziehen sich auf Leistungen. Wenn ein Besitzer drei Pferde hat, dann kann er sehr wohl die drei Pferde mit einer Hausbesuchspauschale behandeln lassen.
Aber wo ist der Unterschied zwischen drei Pferden mit einem Besitzer zu drei Pferden mit je einem Besitzer – es werden schließlich die Pferde behandelt und nicht die Besitzer?
Das ist schon ein Unterschied: Denn jeder Besitzer bekommt einen extra Termin, jeder Besitzer bekommt eine extra Rechnung, jeder Besitzer birgt eine Terminverschiebungsrisiko.
Für viele Pferdebesitzer bleibt die Hausbesuchspauschale ein happiger Posten auf der Rechnung.
Ja, das ist happig. Aber diese Gebühr ist nicht mal aus dem Kreis der Tierärzte gekommen. Klar, haben wir gesagt, es muss was passieren. Ich kann Ihnen sagen, die Routine eines Tierarztes ist heute nicht mehr, dass nur ein Tierarzt in einen Stall fährt, sondern da fährt ein Tierarzt vom Hof und der nächste kommt an, weil Tierhalter A nur Tierarzt A will und Tierhalter B nur Tierarzt B an sein Pferd lässt. Das ist in den letzten 20 Jahren Usus geworden.
Wird der Wunsch nach individueller Betreuung fürs eigene Pferd zum Problem?
Das ist tatsächlich ein Problem, das bei Tierärzten schon fast an Nummer eins steht. Viele Pferdebesitzer setzen ihren individuellen Anspruch auf ihren individuellen Tierarzt sehr hoch an, selbst bei einfachen Dingen. Egal, ob es Impfung, Lahmheit oder Husten ist, möchte der Pferdebesitzer diesen einen Tierarzt haben. Diese Individualität ist für uns schwierig.
Welche Alternativen hat denn der Pferdebesitzer, wenn die Hausbesuchspauschale das finanzielle Fass zum Überlaufen bringt. Gerade wenn das Pferd immer wieder kränkelt. Fahren Pferdebesitzer jetzt mehr in die Klinik oder zögern sie eine tierärztliche Untersuchung eher raus?
Das wird sich zeigen. Bei uns ist der Trend seit längerem so, dass die Pferdebesitzer eher in die Tierklinik fahren und nur die Routineuntersuchungen im Stall machen lassen.
Ich sehe aber ein ganz anderes zugrundeliegendes Problem, das viele Pferdebesitzer noch gar nicht überblickt haben.
Welches ist das?
Wenn Pferdebesitzer am Wochenende einen Tierarzt brauchen, dann wird das – je nach Region – extrem schwierig. Warum? Weil die Leistungen nicht gut genug bezahlt werden. Die Tierärzte sind immer noch diejenigen, die am schlechtesten bezahlt werden im Verhältnis zu allen anderen freien Berufen. Wir müssen unsere Mitarbeiter adäquat bezahlen, sonst haben wir bald keine mehr! Wir „Alten“ fahren am Wochenende ja schon wieder raus, weil wir es uns gar nicht anders leisten können. Denn wir haben keine Mitarbeiter, die das machen wollen. Ich selbst arbeite sieben Tage die Woche. Die nächste Generation sagt, sie macht nur vier Tage. Das heißt, wir versuchen gerade die Quadratur des Kreises zu lösen!
Wir bieten mittlerweile die Vier-Tage-Woche an, wir haben die 38,5 Stunden-Woche eingeführt, doch damit kriegen wir keinen Notdienst und keinen Nachtdienst dargestellt. Es gibt zu wenige Tierärzte, die bereit sind, diese zeitlichen Lücken zu schließen. Und da ist es zumindest ein Ansatz, ordentliche Löhne zu bezahlen, damit der Beruf des Tierarztes überhaupt noch eine gewisse Attraktivität hat. Es gibt nicht mehr die „24/7-Idealisten“, die in diesem Beruf arbeiten. Die nächste Generation denkt ganz nüchtern über ihre Work-Life-Balance nach und die ist mit der Tätigkeit als Pferdetierarzt extrem schwer lösbar. Irgendwie müssen wir das in den Griff kriegen. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) hat gesagt, das ist so nach der alten GOT nicht mehr machbar. Und dann wurde ein unabhängiges Wirtschaftsinstitut eingesetzt, um die Situation der Tierärzte zu evaluieren und daraus entstand die neue GOT.
Was genau hat dieses Institut ausgearbeitet?
Bei der Evaluierung hat das Institut geguckt, was kriegen die Tierärzte für welche Leistung und ist das kostendeckend? Und dabei kam heraus: Das geht gar nicht. Das Institut hat eine Kostenanalyse der tierärztlichen Betriebe erstellt und einen Kosten-Minuten-Satz ausgearbeitet, der Grundlage war, um mit handfesten Kriterien eine Bewertung tierärztlicher Leistung zu haben. Bei der Umsetzung kam dann ein Vorschlag aus dem Jahr 2012 aus der Schublade. Diesen hatte die Bundestierärztekammer für eine GOT-Überarbeitung damals entwickelt, er wurde aber nie umgesetzt.
Bis jetzt.
Genau. Nach der Prüfung hat man nach der Systematik dieses Vorschlags die neue GOT konstruiert.
Das ist zehn Jahre später.
Ja, das ist natürlich ein langer Zeitraum. Ich bin in der Arbeitsgruppe, die an der Umsetzung beteiligt ist, und wir haben uns extrem viel Mühe gegeben, das Ganze zu aktualisieren. Der Anspruch der Tierbesitzer ist in den letzten Jahren ein anderer geworden. Sie wollen heute humanmäßige Versorgung. Ihnen reicht es nicht, dass einer mit einer Spritze und Zange kommt und sagt, jetzt machen wir mal eine Lahmheitsuntersuchung. Sie erwarten mobiles Röntgen, mobilen Ultraschall oder sogar eine mobile Endoskopie. All dies wurde in den letzten Jahren aufgerüstet.
Eigentlich laufen wir der ganzen Sache hinterher. Die Preisstruktur, die wir jetzt in der GOT haben, beruht auf einer Kostenstruktur von 2019, die im Februar 2020 abgeschlossen wurde. In der Zwischenzeit haben wir allein über die Inflation eine Kostensteigerung gehabt, sodass wir heute mit dem einfachen GOT-Satz schon wieder hintendran sind.
Aber wurden die Pferdebesitzer Ihrer Meinung nach genug mitgenommen? Ich denke an Pferdebesitzer, die sich ihr Pferd zwar leisten können, aber dafür auch auf einiges verzichten …
Ich kann diese kritischen Gedanken verstehen und ich muss das selbst jeden Tag verargumentieren. Was man aber bei dieser ganzen Diskussion nicht berücksichtigt, ist, dass das Röntgen billiger geworden ist. Oder dass die GOT seit 1999 bis auf zwei zwölf-prozentige Anhebungen von Pauschalen ansonsten immer gleich geblieben ist. Das hätte sich kein Arbeitnehmer, keine selbstständige Gruppe je bieten lassen.
Im EU-Vergleich sind wir immer noch im hinteren Drittel. In Österreich ist der Tierarzt noch billiger als hier, aber ansonsten ist er teurer. Wir sind also sicherlich nicht unverschämt mit unseren Preisen. Das resultiert auch in der Gesamtsituation, die wir in Deutschland haben. In England, Schweden und Norwegen ist es besser: Die haben deutsche Tierärzte, weil sie sie besser bezahlen können, weil der Tierbesitzer es dort gewöhnt ist, ein deutlich höheres Niveau zu bezahlen. Wir wissen, dass bei den Hochschulabgängern nur ein Drittel als Vollzeit-Arbeitskräfte in den Markt gehen. Ein Drittel macht Teilzeit und das letzte Drittel geht in einen ganz anderen Beruf. Das heißt, wir bluten im Moment aus.
Wie wirkt sich das im Alltag aus?
Wir Tierärzte an der Front befassen uns jeden Tag mit dieser Thematik der neuen GOT und ich finde das auch nicht toll. Aber auf der anderen Seite habe ich eine Pferdeklinik, ich muss die Notdienste generieren. Wir haben an 365 Tagen im Jahr 24 Stunden Dienst. Von solchen Tierkliniken gibt es nur noch ein Drittel, verglichen mit dem Bestand von vor 20 Jahren. Und warum nennen sich die anderen zwei Drittel nicht Tierklinik? Weil sie keinen Notdienst anbieten können. Diese 140 Tierkliniken toben da jetzt rum und genau wie ich „alter Kerl“ sagen meine Kollegen: Da fällt einer aus, ich springe ein. Das heißt, ich habe teilweise Wochen, in denen ich einen Nachtdienst mache, das ganze Wochenende durcharbeite und am Montag wieder auf der Matte stehe. Normalerweise bräuchte es für mich drei Ersatztierärzte. Ich bin 64 Jahre alt, irgendwann ist die Uhr abgelaufen – nur diese drei Tierärzte, die mich ersetzen müssten, habe ich nicht.
Es bleibt der Unmut bezüglich dieser Hausbesuchspausche, es gibt eine Petition, sehen Sie Nachbesserungspotential?
Im Endeffekt wäre es besser gewesen, die Wegegelder nach oben zu schieben, dann hätten alle ein bisschen gemeckert, aber es wäre nicht so offensichtlich gewesen. Unterm Strich wäre es mehr gewesen als das, was wir jetzt haben. Und wahrscheinlich hätte niemand so richtig drüber nachgedacht. Jetzt kommt da eine Pauschale von 34,50 Euro (netto) und daran hängt man sich auf. Es ist wahrscheinlich ungeschickt gewesen, diesen Bereich so zu definieren, aber da waren wir nicht so involviert, das wurde von übergeordneter Seite so festgelegt. Wir haben sowieso nicht viel Einfluss gehabt. Wir waren beteiligt wie der Tierschutzbund, die Landwirte und die Verbraucherschutzzentrale.
Und wie glätten Tierärzte die Wogen beim Pferdebesitzer – wie sieht das im echten Leben aus?
Wir Tierärzte müssen die neue GOT so verträglich wie möglich machen. Das ist bei den Kollegen auch so angekommen, dass man mit der Tierarztrechnung in Summe nicht übers Ziel hinausschießt. Und da kann ich sagen, dass wir im Schnitt nicht die anvisierten 20 bis 25 Prozent höher liegen, sondern eher bei zehn Prozent. Das resultiert daraus, dass wir Tierärzte in der „alten GOT“ nicht mehr mit dem Einfachen, sondern schon mit einem deutlich höheren Faktor abgerechnet haben. Die neue GOT wird im Allgemeinen nun mit einem niedrigeren Faktor abgerechnet, sodass die Erhöhung nicht gleich der Erhöhung der Einzelwerte in der neuen GOT entspricht. Aber noch einmal, es wird teurer! Die Erhöhung ist zwingend nötig, sonst hat der Pferdebesitzer vielleicht jetzt ein bisschen Geld gespart, aber in zehn Jahren hat er keinen Tierarzt mehr.