Im Portrait: Valegro
Blueberrys große Reise
Eigentlich bin ich nicht nervös, aber in den letzten zehn Minuten vor unserem Start fühlten sich meine Beine an wie Gummi. Ich wusste, das ist seine große Chance, einen perfekten Abschied zu haben. Ich wollte es so sehr. Und als ich in die Arena hineingeritten und ums Viereck getrabt bin, war es, als würde er meine Hand halten. Ich konnte es fühlen und wusste in dem Moment: So, jetzt bin ich bereit.“ Charlotte Dujardin ist ein redegewandter Mensch. Sie weiß, wie sie mit treffenden Sätzen Sympathien gewinnt. Als die britische Dressurreiterin aber die letzten Minuten vor ihrem Olympischen Kür-Ritt in Rio de Janeiro beschreibt, wählt sie Worte, die jedem Reiter Gänsehaut bereiten, der die Beziehung zwischen Mensch und Pferd versteht. Und sie fasst die Emotionen zusammen, die die ganze Reitsportwelt in dem Moment mitfühlen konnte, als Valegro seinen
letzten großen Titel gewann und mit dem zweiten Einzel-Olympiasieg seine Karriere beendete. „Wir haben über die Jahre des Trainings so eine starke Bindung aufgebaut, dass ich genau fühle, wann er Angst hat, etwas aufgeregt ist oder sich absolut wohlfühlt“, sagt Dujardin. Wehmütig, aber auch stolz. „Ich lese ihn wie ein Buch – wie einen Menschen.“
Rund vier Monate nach dem großen Triumph. Es ist der 14. Dezember 2016. Valegro steht im Lichtkegel inmitten der Olympia Grand Hall in London und badet im Szenenapplaus des Publikums. Die Briten feiern das Pferd, das dem Dressursport in ihrem Land und weltweit ein unverkennbares Gesicht gegeben hat: dynamisch, kraftvoll, mit grenzenloser Energie. Ein Rekordpferd, das mit 14 Jahren das internationale Dressurviereck verlässt. „Seine Leistung ist in seinem Leben oft genug beurteilt worden“, sagt sein Trainer Carl Hester traurig und zugleich unendlich glücklich darüber, dem 1,65 Meter großen Wallach den Abschied zu ermöglichen, den eine lebende Legende wie er verdient. Im internationalen Wettkampf ist der Dunkelbraune Geschichte.
Die deutsche Dressur-Richterin Katrina Wüst erinnert sich noch genau an ihre erste Begegnung mit Valegro: „Ich habe ihn zum ersten Mal als junges Pferd bei der englischen Jungpferde-Meisterschaft in Stoneleigh gerichtet, er war damals fünf- oder sechsjährig.“ Als hübsch und nett, habe sie ihn wahrgenommen. „Er gefiel uns, ohne allerdings meine Kollegen – zwei renommierte englische Trainer – und mich in einen Begeisterungstaumel versetzen zu können. Vor allem der Fremdreiter hatte einige Mühe. Letztendlich wurde Valegro Zweiter – aus heutiger Sicht wohl ein fettes Fehlurteil, denn von dem damaligen Sieger hat man später nie mehr etwas gehört.“ 2011 sah Wüst Valegro wieder. Im Grand Prix im österreichischen Fritzens. „Jetzt war er nicht mehr hübsch und nett, sondern schön, dynamisch und überaus bewegungsstark. Aus dem Nichts schnellte er auf 78 Prozent und mehr.“ Für ihren Richter-Kollegen Peter Holler ist der Wallach ein Pferd ohne Schwächen: „Besonders machte ihn seine Präsenz im Viereck aus und auch, dass er immer alles gegeben hat, sehr gehorsam war und sich wenig von den äußeren Bedingungen beeinflussen ließ.“ Seine drei Grundgangarten seien durchweg überzeugend gewesen. „Und seine Verstärkungen waren herausragend, ebenso wie der Takt in Passagen und Piaffen, die Wechsel und vieles mehr“, schwärmt Holler und Katrina Wüst bringt es auf den Punkt: „Er war für mich eines der Traumpferde, die zu richten nur Freude und Genuss bedeuten.“
Von Anfang an beeindruckend
Geboren wurde dieses Traumpferd am 5. Juli 2002 in Burg Haamstede in den Niederlanden. Seine Mutter hieß Maifleur. Der kleine Hengst bekam von seinen Züchtern Maartje und Joop Hanse zuerst den Namen Vainqueurfleur. Den Vater Negro kannten sie gut und als sich das Fohlen vielversprechend entwickelte und immer wieder sein Potenzial durchblitzen ließ, dachten sich Hanses: „Er braucht einen neuen Namen.“ Denn in ihrem Stall gab es schon ein Pferd namens Vainqueurfleur und der Youngster sollte zur niederländischen Körung. Ein bisschen individueller durfte es schon sein. Fortan hieß er also Valegro. Auf der Körung fiel er besonders einem auf: Carl Hester. Obwohl er nicht gekört wurde, beeindruckte er den britischen Dressurreiter aufgrund seines ausdruckstarken Typs. Hester kaufte Valegro und schon beim Anreiten zeigte sich, dass der mittlerweile gelegte
Dunkelbraune extrem talentiert war. Besonders sein Galopp war überzeugend. Aber er blieb zu klein für Hester, der ihn daraufhin kurzzeitig zum Verkauf anbot, sich dann aber doch überzeugen ließ, ihn zu behalten.
Nur, wer ihn reiten sollte, war lange nicht klar. Jungpferdeprüfungen lief Valegro, der im Stall Blueberry oder Bluebs heißt, unter Hester und anderen Reitern. In dieser Zeit traf der britische Dressurtrainer auf einem Turnier auf Nachwuchsreiterin Charlotte Dujardin, die zu dieser Zeit in der kleinen S-Tour unterwegs war. Sie bombadierte ihn mit Fragen und durfte zu einer Trainingsstunde zu ihm kommen, dann ein paar Tage bleiben und aus ein paar Tagen wurden Jahre. Der Rest ist Geschichte. Es passte einfach zwischen ihr und Carl Hester, der entschied, dass sie und Valegro ein gutes Team sein könnten.
„Einer der ergreifendsten Momente und schönsten Siege war London 2012“, sagt Charlotte Dujardin. Während dieser Olympischen Spiele kam immer wieder das Gerücht auf, das Pferd stehe anschließend zum Verkauf. Es dauerte fast ein Jahr, bis Entwarnung gegeben wurde und Hester gemeinsam mit Valegros Mitbesitzer Rowena Luard das Pferd für Dujardin sicherte und eine Besitzergemeinschaft gründete.
„Seinen Preis kennt niemand“, schrieb Carl Hester 2015 in dem Buch „Valegro – Champion Horse“, das in England erschien. „Valegro ist und bleibt im Besitz von mir, Rowena Luard und Anne Barrott. Er ist einfach unbezahlbar.“ Nicht nur für ihn und Charlotte Dujardin, sondern auch für Pfleger Alan Davies, der den Wallach als „besten Freund“ bezeichnet und die Tränen nicht zurückhalten konnte, bei dem Gedanken, dass er von dort an ohne Blueberry auf die Turniere fahren würde. Blueberry – Blaubeere – übrigens deshalb, weil Valegro als Jungpferd mit einigen anderen in den Stall kam und man dem Grüppchen Spitznamen nach Früchten und Gemüse gab. „Ich bin froh, dass es Blaubeere ist“, lacht Davies. Es gab auch eine Tomate und eine Pastinake.“
Heu-Tee und stahlblaues Fell
Zum ersten Mal habe er Valegro ins französische Vidauban begleitet, wo dieser sein internationales Grand Prix-Debüt direkt gewann, erzählt der Pfleger und plaudert in dem Buch über das Rekordpferd aus dem Nähkästchen: „Er liebt alles, was essbar ist, besonders sein Heu.“ Um seine Sportpferdefigur zu halten, werde es aber genau rationiert. „Er taucht sein Heu immer in einen Eimer mit frischem Wasser ein, bevor er es frisst. Damit macht er sich seinen eigenen Heu-Tee.“
„Beim Reiten fühlt man sich extrem sicher und wohl auf ihm. Er will vorwärts, ist aber nie unkontrollierbar. Und er liebt das Ausreiten. Dann schaut er, was so auf den Nachbarhöfen passiert.“ Alan Davies kann stundenlang über die Eigenheiten des Negro-Sohnes erzählen, ohne müde zu werden. Sogar zu Valegros Haarkleid fällt ihm etwas ein: „Im Sommer ist er fast schwarz mit einem Hauch Fuchsfarben. Und im Winter, wenn er geschoren ist, wirkt er fast ein bisschen stahlblau.“
Für Alan Davies hat Valegro auch im Umgang die höchste Punktzahl 10,0 verdient. So wie er sie unzählige Male für einzelne Grand Prix-Lektionen bekommen hat. Die Zwischen-Genie-und-Wahnsinn-Theorie, die für viele andere Spitzenpferde gilt, trifft auf ihn ganz und gar nicht zu. Er ist ein Kumpeltyp. Einer, dem das Talent einfach in den Schoß gefallen ist. „Er hat mir Träume erfüllt, von denen ich niemals zu träumen gewagt hätte“, sagte Charlotte Dujardin dankbar. Gegenüber dem Pferd ihres Lebens, mit dem sie jede Minute genießt.
Leseprobe: Ausnahmevererber Cornet Obolensky
Zu Besuch bei Cornet Obolensky
Lange stand er in der Ukraine. Als dort im vergangenen Jahr der Krieg begann, kam er zurück nach Westfalen. Er ist einer der bedeutendsten Vererber in der Springpferdezucht, dieser Schimmel mit dem Schalk im Nacken. Willkommen bei einer Legende, willkommen bei Cornet Obolensky.
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