Michael Jung - ein Portrait
Pferde, nichts als Pferde
Anmerkung der Redaktion: Der folgende Text ist erstmals in unserer Januar-Ausgabe 2016 veröffentlicht worden. Es ist die Geschichte eines besonderen Sportlers, die unseres Erachtens auch vier Jahre später noch lesenswert ist.
Sam suhlt sich im Dreck. Der Wallach, der alles gewonnen hat – Doppelgold bei den Olympischen Spielen, Doppelgold bei den Europameisterschaften, Einzelgold bei den Weltreiterspielen – nun genießt er Weide und Wintersonne. Es ist Dezember. Seinem Reiter Michael Jung bleibt keine Zeit innezuhalten. Weitere Pferde warten. Er schließt das Weidetor hinter sich, wirft einen Blick zurück, ehe er den Weg zum Stall einschlägt. Das Gras ist rutschig. Die Sohlen seiner Reitstiefel sind glatt. Michael Jung bleibt stehen, schaut zu Sam, der wie angewurzelt dasteht und zwei Hunde beim Spielen beobachtet. Seine Nüstern weiten sich, doch er bleibt ruhig, schaut, Michael Jung geht weiter. Fünf Meter. Er dreht sich wieder um, will sicher gehen, dass alles in Ordnung ist. Denn auch die Weiden sind rutschig nach den ersten Schneeflocken im baden-württembergischen Horb. Die Sorge, dass der Braune losrennen, buckeln und falsch aufkommen könnte, ist groß. La Biosthetique Sam ist wertvoll, nicht nur im materiellen Sinne. Doch darf er Pferd sein. „Sam ist meist den ganzen Tag draußen und dabei sehr gelassen “, sagt Jung, während der Wallach den Kopf senkt und ein paar Halme knabbert. Durchatmen bei Michael Jung. Die Arbeit kann weitergehen.
Jung hat dem Stan the Man xx-Sohn viel zu verdanken. Wobei, wer darf hier eigentlich wem dankbar sein? Sam dem Reiter, der ihn zu dem Pferd gemacht hat, das heute nicht nur die ganze Reitsportszene kennt, oder Michael Jung dem Pferd, dem er zahlreiche Titel zu verdanken hat? Sicher ist, dass für Michael Jung der Einzelsieg mit Sam bei den Weltreiterspielen in Kentucky 2010 auch Jahre später nicht an Bedeutung verloren hat. „Wir hatten die allerbeste Dressur, waren top in Gelände und Springen und haben mit einem Riesenvorsprung gewonnen.“ Michael Jung lächelt, sein strahlendes Siegerlächeln, und gibt sich zugleich nachdenklich: „Heute würde ich die Strecke wahrscheinlich mit anderen Augen sehen, aber damals war es vom Schwierigkeitsgrad her das Größte.“ Er hat sich weiterentwickelt. Konnte Michael Jung damals noch als Newcomer auftrumpfen, erwarten heute alle von ihm Großartiges.
Superlative gehören zum Alltag
„Gold-Michi“, „Super-Michi“, „Gold- Jung“ – die Spitznamen für den Reiter aus Horb sind vielfältig. Wer von Michael Jung spricht, spricht gern in Superlativen. Kein Wunder, hat der Berufsreiter in den vergangenen Jahren doch alles gewonnen, was Ruhm und Ehre verspricht. „Ich bin nicht Reiter geworden, um alles zu gewinnen, sondern weil mir das Ausbilden von Pferden so viel Spaß macht“, entgegnet der Vielfach-Champion. Reiten, um des Reitens willens. Es gibt nichts Wichtigeres in Michael Jungs Leben als Pferde. Das wird deutlich an diesem Tag, an dem eigentlich der Mensch Michael Jung im Mittelpunkt stehen sollte, schlussendlich ist es der Reiter Michael Jung. „Ich hatte nie einen anderen Berufswunsch, wollte immer nur reiten. Mit zwölf stand für mich fest, dass ich Berufsreiter werde.“
Seine Mutter Brigitte hatte früher ihre Mühe und Not, den kleinen Michi für die Hausaufgaben im Haus zu halten. „Von jedem unserer Fenster aus kann man Pferde sehen. Anstatt zu lernen hat Michi damals immer geschaut, wie welches Pferd läuft“, schmunzelt sie. Michael Jung ist mit Pferden groß geworden. Im wahrsten Sinne: Schon sein Laufstall stand in der Reithalle. „Wir hatten kein Geld für eine Nanny, Michi war drei Monate alt, als wir auf die eigene Anlage gezogen sind. Sein Bruder Philip war zwei.“ Seit 1982 gibt es den Betrieb. Die eigene Reitanlage, die Reitschule Jung. Der Familientraum, der jetzt in einer Form gelebt werden kann, von der die bodenständige Familie nie zu träumen gewagt hat. „Viele sehen nicht, wie viel Arbeit und Herzblut dahinter steckt“, sagt Brigitte Jung. Ihr Mann Joachim ergänzt: „Wir haben in diesen Betrieb damals alles reingesteckt, was zu mobilisieren war. Mein Vater verkaufte sein Haus, die Eltern meiner Frau haben ein Jahr bei den Nachbarn gewohnt, um hier täglich arbeiten zu können. Wir waren verschuldet und die ersten zehn Jahre stand das Ganze oft auf der Kippe. Wie alles im Leben, hing auch dies vom nötigen Quäntchen Glück ab.“ Diese Zeiten sind vorbei. Heute steht Michael Jung für das Jung‘sche Erfolgskonzept. Der Plan ging auf.
Von Baumhaus zu Baumhaus
Das 30. Betriebsjubiläum krönte Michael mit dem Doppel-Olympiasieg 2012 in London – natürlich auf Sam. Wenn Brigitte Jung davon spricht, strahlt sie. Herzlich und ehrlich. Für sie gibt es nichts Schöneres als die Pferde. Da ist sich die Familie einig. Seit Generationen: Schon Michael Jungs Großvater war Pferdemann und Michaels größter Fan. Seine ganz großen Erfolge durfte er leider nicht mehr miterleben. Aber er kannte die Anfänge. Zwei Baumhäuser zierten damals die Koppeln, auf denen Michael und Philip Cowboy und Indianer spielten. Philip auf dem Schimmelpony Sally, Michael mit Rapp-Shetty Moritz. „Ein richtiger Stinkstiefel war das“, wirft Joachim Jung ein. „Da die Baumhäuser auf den Koppeln waren, konnten wir einfach von den Ponys abspringen und sie wie im Film mit Trense stehen lassen“, denkt Michael Jung zurück. „Unsere beiden Söhne waren von Kindesbeinen an verrückt nach Pferden. Das ist komisch, weil der Beruf vom Vater auf die Kinder meist abschreckend wirkt“, sagt Joachim Jung. Gefreut hat es ihn trotzdem. Nein falsch, es muss ‚umso mehr‘ heißen.
Wichtig war den Eltern, dass die Kinder in erster Linie ganz viel Spaß mit den Pferden hatten. „Ich habe sie mit dem Schlitten vom Kindergarten abgeholt oder Nachtritte mit ihnen gemacht“, erinnert sich Brigitte Jung. Mit dem Leistungssport sollte Michael so spät wie möglich beginnen. Die ersten Turniere bestritt er mit acht Jahren. Jugendreiterprüfungen, es folgte der klassische Weg über E- und A-Prüfungen, jeweils in Dressur und Springen. Ehe er seine erste Vielseitigkeitsprüfung bestritt, war er aber schon auf L- bis M-Niveau unterwegs. Er sollte sehr sicher im Sattel sein, fanden seine Eltern, ehe er die ersten festen Hindernisse auf dem Turnier anritt.
Michaels Talent zeigte sich früh. Die Tage, an denen er in der Schule fehlte, um auf Turniere fahren zu können, nahmen mit dem Alter zu. „In den letzten paar Jahren hatte er einen genialen Rektor auf der Realschule, der voll hinter ihm stand. Sein Sieg bei der Deutschen Meisterschaft der Junioren wurde über den Schullautsprecher bekannt gegeben", erinnern sich die Eltern gerne. Die Schule war für Michael Pflicht, das Reiten die Kür. Zur Schule fuhr er mit dem Rad, die sechs Kilometer hätten ihm mit dem Bus zu lange gedauert, dann lieber bergauf radeln. Schulausflüge ließ er Ausflüge sein. Lieber blieb er zuhause, um zu reiten. „Ein Tag ohne springen war für Michi stets ein verlorener Tag“, erzählt die Frau Mama. „Einmal sollte er auf dem Turnier ein Dressurpferd meines Mannes bis zur Platzierung Schritt reiten. Wir ließen ihn allein auf dem Abreiteplatz, um einen Kaffee zu trinken. Als wir wieder kamen, schwitzte das Pferd. Und Michaels Kommentar war, dass Pferd sei jetzt springmäßig gymnastiziert und bereit für die Siegerehrung. “
Wie ein großer Spielplatz
Das ist lange her. Doch wenn Michael Jung heute mit einem Pferd auf den hofeigenen Geländeplatz reitet und im Galopp richtig lospreschen kann, sieht man ihm an, welche Freude ihm das bei aller Professionalität immer noch bereitet. Es scheint, als wäre er auf seinem ganz persönlichen Riesenspielplatz. Die Hindernisse hat er zum Teil selbst gebaut. Rund 100 stehen auf dem hügeligen Gelände. Inspirationen dafür sammelt er auf Turnieren.
Springplatz, Dressurviereck und Trainingsgelände sind miteinander verbunden. Ohne ein Tor zu öffnen, kann man von einem Platz zum anderen reiten. Perfekt, um Pferde vielseitig auszubilden. Und das kann Michael Jung. Das Goldene Reitabzeichen trägt er wie sein Vater in Dressur und Springen. Zuletzt mischte er bei den German Masters in Stuttgart mit Sportsmann S bei den internationalen Parcours-Spezialisten mit. Sein Steckenpferd ist aber die Vielseitigkeit. Bei der Jahresturnierplanung haben die mehrtägigen Events mit Dressur, Gelände und Springen Vorrang. Fast jedes Wochenende ist Michael Jung mittlerweile unterwegs. Seine Eltern reisen mit, so oft es eben geht. Als Eltern und als Trainer. „Natürlich ist da das Wichtigste, dass der Bub heil nach Hause kommt“, sagt sein Vater. Joachim Jung coachte seinen Sohn von Kindesbeinen an – bis heute. „Mein Vater ist immer noch sehr wichtig für mich, wenn es um Details geht. Er hilft mir, hier und da noch ein Pünktchen raus zu holen“, erklärt Michael Jung. Die Beziehung zwischen den beiden ist harmonisch, jeder weiß, dass er sich auf den anderen verlassen kann. Sie sind ein eingespieltes Team und Reiter durch und durch. Sie wissen, dass dazu gehört, die Pferdeäpfel in der Halle aufzusammeln oder die Schubkarre von A nach B zu schieben.
„Mein Vater ist sich bewusst, dass man manche Erfahrungen selber machen muss. Er kann sich sehr gut zurückhalten, hat mir nie alles vorgeschrieben, auch wenn er wusste, dass es eine Katastrophe war“, blickt Michael Jung zurück. Und noch etwas zeichnet die Schule aus, durch die Michael Jung gegangen ist: die schwierigen Pferde. „Am meisten haben mich die Pferde geprägt, von denen ich am häufigsten runtergefallen bin.“ Sie haben ihn zum Nachdenken angeregt, dazu gebracht, Lösungen zu suchen, andere Wege zu gehen. Denn einfach aufgeben, das ist nicht Michael Jungs Ding. Lieber beißt er die Zähne zusammen, wie bei seinem Doppelgold bei den Europameisterschaften im September 2015. Bei einem Sturz mit fischerRocana FST eine Woche vor dem Championat hatte er sich einen Knochenbruch zugezogen. Ein Stück vom Schienbein war abgesplittert. „Es war Michis Glück, dass keiner der Ärzte darauf bestanden hat, ihn zu röntgen, sonst hätte er weder den Vier-Sterne-Kurs in Burghley mit Sam gewonnen, noch die EM mit fischerTakinou.“ Da soll noch einmal jemand sagen, Reiten sei ein Mädchensport.
Mit den Augen stehlen
Michael Jung werden Nerven wie Drahtseile nachgesagt. Vielleicht liegt es daran, dass er den Druck und die Anspannung als etwas Positives sieht. „Das muss da sein, sonst nimmt man die Prüfung nicht für voll“, sagt er. Je nervöser sein Pferd sei, desto ruhiger versuche er zu werden, so der dreifache Doppeleuropameister. Das Abreiten vor der Prüfung strukturiert er so, dass das Pferd möglichst entspannt in die Prüfung geht. „Man fährt nicht aufs Turnier, um zu üben“, sagt er. Die Lektionen müssen sitzen. Fragt er sie ab, gibt es im Anschluss kurze Schrittphasen. Und hat sich das Pferd an das phasenweise Abreiten gewöhnt, ist man flexibel im Ablauf. Spontane Zeitverzögerungen machen also nichts.
Für Michael Jung ist der Abreiteplatz so oder so einer der liebsten Orte auf dem Turnier. Er schaut gerne anderen Reitern zu, schaut wie sie ihre Pferde arbeiten, Probleme beheben oder gar nicht erst entstehen lassen. „Ich halte immer Augen und Ohren offen, schaue, was ich von anderen lernen kann und baue mir so ein Potpourri an Lösungen auf“, sagt der Mann, den alle als Stilist und feinen Reiter bezeichnen. Trainingstipps holt sich Michael Jung außerdem von Springreiter Marcus Ehning und Reitmeister und Dressurreiter Hubertus Schmidt, zu denen er ab und zu fährt. Austausch unter Vollprofis sozusagen. „Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass Berufskollegen auch mal zu uns zum Training kommen“, erklärt Joachim Jung, während sein Sohn gerade einem Bereiter aus dem Stall von Marcus Ehning Unterricht gibt. Als Dank bekommt er eine Packung Merci-Schokolade überreicht – wie es in jedem Stall passieren könnte. Bodenständig, diese Jungs.
Und so war es für Michael Jung auch nie eine Frage aus dem beschaulichen Altheim, ein Ortsteil Horbs, wegzuziehen. Er wird den Familienbetrieb weiterführen. Im Fokus steht ganz klar der Spitzensport, für Anderes ist keine Zeit. Lehrgangsanfragen werden meist abgelehnt, die meisten Presseanfragen auch. Die Zeit, die Michael zuhause ist und nicht auf dem Turnier, ist kostbar. Er ist das Aushängeschild des Betriebes, der Motor. Gibt Ansagen, wer wann, welches Pferd wie reitet, unterrichtet seine Mitarbeiter und legt dabei größten Wert auf Präzision. Exaktes Reiten ist ihm wichtig. Kleinigkeiten fallen ihm auf. Die Kleinigkeiten, die den Unterschied machen zwischen Top-Reiter und Weltspitze.
Ganz oben steht jedoch das Wohl seiner Pferde, auch hier achtet er auf Kleinigkeiten. Zupft schnell noch einmal die Decke zurecht und sieht direkt, wenn etwas nicht stimmen könnte. Auch weiß er, „dass Sportsmann S in seine Boxennachbarin Rocana FST verliebt ist“. Spitzenpferd steht im Stall Jung neben Spitzenpferd. Das war nicht immer so, sein Vater machte den Job eines klassischen Berufsreiters und bekam Pferde für einen kurzen Zeitraum in Beritt. Nicht selten zur Korrektur. Bei Michael Jung ist das anders. Pferde, in denen er Potenzial sieht, sichert er sich vertraglich langfristig. Auch das war nicht immer so. Als Sam kurz nach der WM 2010 heimlich von der damaligen Mitbesitzerin aus dem Stall geholt wurde, war die Zukunft der beiden ungewiss. Alles fügte sich glücklich, aber so eine Situation möchte die Familie nicht noch einmal erleben.
Michael, der Dickkopf
Zur Familie gehört seit Jahren Michaels Freundin Faye Füllgraebe – auch Vielseitigkeitsreiterin. Und – wie sollte es auch anders sein – kennengelernt haben sich die beiden auf einem Turnier. Sie verbindet die große Leidenschaft Vielseitigkeitssport. Sie reitet internationale Prüfungen, ist Tierphysiotherapeutin und muss lange nach einer Antwort auf die Frage nach einer Schwäche ihres Freundes suchen. „Er möchte gerne seinen Dickkopf durchsetzen“, sagt sie nach einer Weile. Klar, ein Michael Jung weiß, was er will, sonst stände er heute nicht ganz oben. Er selbst umgeht die Frage nach möglichen Schwächen geschickt. „Meist ist das schlechter, auf das man nicht so viel Wert legt.“
Im Interview: Dressur-Bundestrainerin Monica Theodorescu
„Ich bin pingelig“
Monica Theodorescu hat mit uns über Corona, den besonderen Reiz der Dressur, die Pest und eine ganz besondere Meise gesprochen, die den Grundstein für ihr Leben mit und für die Pferde gelegt hat. Eine Leseprobe aus unserer aktuellen Mai-Ausgabe.
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