Im Portrait: Weltmeisterin Simone Blum
Dann kam Alice …
Das Wunderland ist grün. Ein oberbayerisches Idyll. Aus der Ferne Glockenläuten. Zolling, 12 Uhr. Ganz leise trägt der Wind die Klänge herüber auf das Gut Eichenhof. Fernab von großen Straßen liegt es an der Amper. Eine Allee führt auf den Hof, ein prunkvolles, gusseisernes Tor an der Einfahrt, vier imposante Wohnhäuser, eines im urbayerischen verschnörkelten Stil, ein anderes mit riesigem Reetdach, wie man es so dicht an München nicht erwartet. Mit Seerosenblättern geschmückte Teiche ringsherum, alter Baumbestand wohin man schaut, dahinter ein hügeliges Waldgebiet. Und vor allem: Ruhe. Es ist das Zuhause von Springreiterin Simone Blum.
Kerzengerade sitzt sie am Familien-esstisch und greift mit beiden Händen nach ihrer Kaffeetasse. Ein bisschen Halt im Gespräch mit der Presse, Reiter Revue International ist exklusiv zu Besuch. Auf der Tasse ihr eigenes Konterfei und das ihrer Stute DSP Alice. Ein Souvenir aus Balve. Dort, wo der ganze Hype begann. Simone Blum wurde im vergangenen Jahr Deutsche Meisterin in der Herrenwertung. Eine Sensation, die vor ihr erst eine Frau geschafft hat: Meredith Michaels-Beerbaum. Sie hatten schon vor Balve immer wieder mal gezeigt, was in ihnen steckt, zum Beispiel ein Jahr zuvor, als sie in der Damenwertung den Titel holten. Doch 2016 fehlte die Konstanz. 2017 war sie da: Mannheim Maimarktturnier, Platz fünf im Großen Preis, Nörten-Hardenberg Rang zwei. Nach Balve erfüllte sich der große Traum: Aachen. Sie überzeugen. Berlin, Global Champions Tour: Platz zwei. Bei den Europameisterschaften in Göteborg 2017 waren sie das Reservepaar für das deutsche Team, in den Rahmenprüfungen räumten sie ab. Ein Jahr später nun der Tag, an dem sie Geschichte schrieben: Einzel-Weltmeister. Simone Blum und Alice sind die Überflieger im Springsport. Und Simone Blum weiß: „Ohne Alice wäre ich nicht hier.“
Ein fester Satz, ein klarer Blick, die blauen Augen leuchten, die feinen Lachfältchen tanzen auf dem sommersprossigen Gesicht, Simone Blum lacht gerne und viel. Sie hat allen Grund dazu, aber sie weiß ihren Erfolg sehr wohl einzuschätzen. So wie die zwei Menschen, die einen Löwenanteil an ihrem Durchbruch haben, und auch jetzt an ihrer Seite sitzen: Mama Ulrike Blum und Simones Trainer und Verlobter, Hans-Günther „Hansi“ Goskowitz.
Ganz jung, ganz furchtlos
Simone Blum wird am 22. März 1989 geboren und wächst auf dem Gut Eichenhof auf. Die Blums sind eine Reiterfamilie, in Bayern bekannt durch Gustav-Adolf Blum. Der langjährige Präsident des Bayerischen Reiter- und Fahrerverbandes ist Simones Opa. Er hat das Gut vor 36 Jahren gekauft, lebt mit seiner Frau noch immer hier. Weltbekannt machte aber Papa Jürgen den Namen Blum. Er war Vielseitigkeitsreiter, vertrat 1996 Deutschland bei den Olympischen Spielen in Atlanta. Die Reithosen zieht Jürgen Blum heute nicht mehr an, er ist geschäftlich viel für das von seinem Vater gegründete Wohnbau-Unternehmen unterwegs – oder sitzt daheim auf dem Traktor und kümmert sich um die 60 Hektar Landwirtschaft. Heu, Stroh, Hafer ist bei Blums Marke Eigenanbau. Simones Mutter Ulrike Blum – ein Energiebündel. Sie war lange Zeit begeisterte Reiterin, ist das Herz des Guts, Rückenstärkung für ihren Mann – und für Simone.
Die ist knapp drei Jahre alt, als sie auf Rentner-Shetty Jacky ihrem Vater in der Reithalle hinterher reitet. Ulrike Blum sieht es noch vor sich: „Sobald sie etwas zur Seite rutschte, blieb das Pony stehen, Simone setzte sich wieder gerade hin und weiter ging’s.“ Als später ihre älteren Brüder bei ihrem jungen, wilden Pony Lady Green verzagen, steht die kleine Simone parat und ruft ihrer Mutter wild gestikulierend zu: „Ich kann, ich kann!“ Ein „Flugpony“ ist die Stute, weil man so schön von ihr herunterfliegen kann. „Wenn ich überlege, wie viele Stunden ich nebenher gelaufen bin, damit nicht zu viel passiert“, schüttelt Ulrike Blum lachend den Kopf.
Simone ist mit Feuereifer dabei, ob sie nun selbst reitet oder ihren „Daddy“ mit aufs Turnier begleitet. Mit zwölf Jahren wird sie in der Vielseitigkeit Bayerische Meisterin. Die Disziplin fasziniert sie, aber sie sieht auch das Risiko – und entscheidet, sich aufs Springen zu konzentrieren. Mit Pony Rivo wird sie Vierte bei den Pony-Europameisterschaften, eines ihrer persönlichen Highlights, „weil Rivo nicht ganz einfach war und der Parcours extrem schwer“. Aber so etwas weckt den Ehrgeiz bei Simone Blum.
Mit Großpferd Kim gelingt ihr der Sprung ins Juniorenlager, mit Kassandro sammelt sie Schleifen in der schweren Klasse. Sie ist 18 als ihr Gustav-Adolf Blum das Goldene Reitabzeichen ansteckt. Voller Stolz. Und mit Sam und Flying Boy rücken die nächsten Partner für schwere Aufgaben nach. Sie nimmt Unterricht bei Markus Mang und Reitmeister Karl-Heinz „Kalli“ Streng. Sie nutzt jede Gelegenheit, wenn ihr Papa Dressur-Unterricht bekommt, und reitet selbst mit. Die meiste Zeit steht Ulrike Blum als Trainerin am Rande des Reitplatzes.
Es scheint eine Bilderbuch-Karriere zu sein. Doch auch Simone Blum erlebt Tiefschläge. Stürze, eine mehrfach ausgekugelte Schulter, Unfälle, die ihr auch Angst machen, sagt sie. Ein schlimmer passiert wenige Wochen vor ihrem Abitur. Sie fällt im Parcours von Sam. Hirnblutung, Koma und wenig hoffnungsvolle Worte des behandelnden Arztes. „Da habe ich das erste Mal in meinem Leben gemerkt, wie schnell es aus sein kann. Was eine Sekunde, in der man falsch reagiert, für Auswirkungen haben kann. Natürlich sind Erfolge wunderschön, aber Erfolg und Niederlage liegen so nah beieinander in dem Sport. Da ist es wichtig, die schönen Momente zu genießen und dankbar zu sein.“ Simone Blum kämpft sich damals zurück, in den Sattel, durchs Abitur. „Sie ist aus einem harten Holz geschnitzt“, sagt Ulrike Blum, „wie ihr Vater.“
Hart wie Eichenholz
Zu Jürgen Blum hat Simone ein besonderes Verhältnis. „Sie sind sich sehr ähnlich“, sagt Ulrike Blum. „Sie haben sehr viel Durchsetzungsvermögen, wollen unbedingt ihre Ziele erreichen. Nur Diplomatie ist von beiden nicht das größte Gut, da muss man schon mal Stopp sagen.“ Die Ähnlichkeit ist eigentlich schon der Kern des Problems. Sie verstehen sich prächtig, „aber Unterricht beim Papa, das hat noch nie funktioniert“, winkt Simone Blum ab. Er wollte immer das Beste aus seiner Tochter rausholen, „und hat geredet, geredet, geredet. Ich konnte das gar nicht alles umsetzen. In der Pubertät war mir das total peinlich, wenn er versucht hat, vorzumachen, was ich reiten muss. Am Ende haben wir uns eigentlich nur noch gegenseitig angekeift“, erinnert sich Simone Blum.
Lange Zeit verbannen Mutter und Tochter Blum den engagierten Vater sogar von den Turnieren. „Mittlerweile fährt er wieder mit“, sagt Simone Blum. „Er kann das jetzt auch genießen und stolz auf sein Pferd sein.“ Aber bitte von der Tribüne aus.
Volle Fahrt Familie
Dagegen immer an ihrer Seite ist ein anderer Mann: Hansi Goskowitz. Ein ruhiger Zeitgenosse, gelassen, aber nicht schweigsam. Goskowitz stammt aus Aachen, war an der Bundeswehrsportschule und am Deutschen Olympiade Komitee für Reiterei. Sein Privatleben führte ihn nach Bayern, ein Pferd namens Izmira brachte Simone und Hansi zusammen. Erst kam er als Trainer nach Zolling, um Simone mit der Stute zu helfen, dann wurden sie ein Paar. Eine Geschichte mit Happy End – und tragischem Ende zugleich. Im März 2016 brach sich die Quidam’s Rubin-Tochter das Bein. Sie musste eingeschläfert werden. Ein herber Verlust für das junge Paar, das so große Stücke auf die Stute hielt.
Hansi Goskowitz hat Simone Blums Leben verändert. Zum einen als Trainer. „Er ist viel professioneller“, beschreibt es Ulrike Blum, die sich heute als Coach lieber zurückhält. „Wenn ich mit 80 Prozent zufrieden war, ist er es erst mit 100 Prozent. Und anders geht es auch nicht, wenn du da oben mitmischen willst.“
Aber auch privat hat sich einiges getan. „Bevor ich den Hansi kennengelernt habe, war ich immer der festen Überzeugung, dass ich meinen Freiraum brauche.“ Ganz anders sei es mit Hansi. „Wir verbringen 361 Tage im Jahr, 24 Stunden zusammen. Im Stall, im LKW, auf Turnieren. Und wir gehen uns nie auf den Wecker. Das hätte ich nie für möglich gehalten.“ Ab und zu ein Restaurantbesuch oder ins Kino. Oft aber sind sie einfach froh, abends mit der ganzen Familie am großen Tisch zu essen und den Tag vor dem Fernseher ausklingen zu lassen. Einen Kurzurlaub haben sie sich zwischen den Turnieren in Lausanne und Barcelona gegönnt. Mehr ist zeitlich oft nicht drin. Außer im Januar, da fährt die komplette Familie Blum zum Skifahren. Das ist Tradition.
Simone Blum ist ein Familien-Mensch, wie alle Blums. Sonst würde die Wohnkonstellation auch nicht so gut funktionieren. Simone wohnt mit Hansi im Elternhaus, im zweiten Stock unterm Reetdach. Auf dem Hof leben Simones Cousinen mit ihren Familien und Pferden. Und dann schneien noch regelmäßig ihre beiden Brüder mit den insgesamt fünf kleinen Kindern vorbei. Dann ist Trubel auf Gut Eichenhof. Genauso mag es Simone Blum und sie mag Kinder – „so lange keines schreit“, fügt sie lachend hinzu. Die Familie ist Zeit ihres Lebens immer nah bei ihr, unterstützt, fördert, formt sie.
Auch als es um ihre berufliche Zukunft ging. Nach dem Abi darf sie ein Jahr allein den Pferden widmen. Mit 20 entscheidet sie: Sie will noch was für ihren Kopf tun, neben dem Reitsport. Sie beginnt ihr Studium an der Technischen Uni München, Biologie und Chemie mit zusätzlichem Lehramt. Etwas Pädagogik schadet ja nicht im Umgang mit dem Personal, denken sich Blums pragmatisch. Und die Fächer fand Simone Blum schon in der Schule spannend. „Das Studium hat mir Spaß gemacht, obwohl es neben der Reiterei nicht einfach war, alles zu koordinieren.“ 2016 hat sie den Master in der Tasche. Seitdem stehen die Pferde im Mittelpunkt. Und das hat viel mit Alice zu tun.
Else, der Feuerdrache
Es ist der Sommer vor vier Jahren, als Simone Blum eine SMS von Hansi Goskowitz erhält und sich dabei folgender Dialog ergibt: „Ich hab genau dein Pferd gefunden!“ – „Was heißt das?“ – „Fuchsstute, zickig, richtig was drin, ein Kracher.“ Die Vorbesitzer bringen die sieben Jahre junge Askari-Landrebell-Tochter Alice zum Probereiten nach Bayern. „Das ist mein Pferd“, weiß Simone Blum sofort. „Sie war einfach grenzenlos. Obwohl ich schon gemerkt habe, dass sie schwierig ist. Hansi stand draußen und machte nur ‚brrrr brrrr, nicht so viel Druck, hooo!’. Die ist mit mir wie eine Wilde über die Hindernisse. Aber ich mag solche Pferde, das passt gut zu meiner Reitweise.“
Alice bleibt. Und auch die Probleme, die sich beim Ausprobieren zeigen. „Wir hatten schwierige Phasen“, sagt Simone Blum. „Manchmal hat sie mit mir gemacht, was sie wollte. Wenn sie hätte lachen können, hätte sie mich nur ausgelacht.“ Egal wie hoch das Hindernis ist, Alice springt sehr hoch. So hoch, dass es ihrer Reiterin auf den Magen schlägt! „Wir haben mal Reihen geübt und ich hatte ein bisschen viel Milch und O-Saft getrunken. Ich musste wirklich absteigen, weil mir schlecht wurde. Die hat so eine Flugschau hingelegt“, erzählt Simone Blum. Voll getankt mit Energie und Kampfgeist, manchmal kaum zu bändigen ist die Stute. „Ein Feuerdrache“, lacht Simone Blum, „sie schnaubt auch manchmal so, überm Sprung schmeißt sie den Hintern in den Himmel, oder stampft mit einem Bein auf, wenn ihr was nicht passt. Es fehlt nur noch, dass sie Feuer spuckt.“
Aber Simone Blum hat den Feuerdrachen, der im Stall je nach Gemütslage Else (wild, zickig, frech) oder Elsi (lieb) genannt wird, gezähmt. „Sie hat zwar immer noch ihre Tage. Wenn sie weniger arbeitet, merkt man schon, wie sich das anstaut und dann braucht sie manchmal einfach ihre halbe Stunde Galopp, leichten Sitz, dann bockt sie leicht.“ Vier Mal am Tag kommt Alice mindestens raus, ob Führanlage, longieren, reiten, grasen gehen, auf der Koppel entspannen, in der Halle laufen und am Allerliebsten ausreiten. „Was sie sonst an Temperament hat, hat sie im Gelände gar nicht. Da chillt sie, schaut sich die Gegend an, da ist Hansi oft schon zehn Meter voraus.“
Frische Früchtchen
Alice ist die unangefochtene Nummer eins im Stall von Simone Blum. 16 Pferde haben sie und Hansi Goskowitz in ihrer Obhut. Wer könnte irgendwann Alice’ Mitspieler werden? Simone Blum blickt zu ihrem Verlobten. Dicke Backen, Stirnrunzeln. Die Klasse einer Alice, das ist einfach eine Hausnummer. Der achtjährige Corlensky G I-Sohn Coolhill könne ein Grand-Prix-Pferd werden, meint Simone Blum. Die neunjährige Levistano-Tochter Little Lucie oder die achtjährige Calee von Camarque sind Talente, aber wie weit reicht das Talent? Eine siebenjährige Shirocco Blue-Tochter habe Ähnlichkeit mit Alice. „Die faucht auch ein bisschen, hat viel Blut, ist noch ganz roh. Das sind halt alles Hoffnungen“, sagt Simone Blum.
Bei der Ausbildung und im Training mit den Pferden setzt sie auf ihre eigenen Wurzeln. Vielseitig muss der Alltag der Pferde sein. Täglicher Koppelgang, viel Gelände, viel Dressur. „Ich glaube, bei jedem Pferd sind die Sprünge gezählt“, sagt Simone Blum. „Es bringt nichts, viele Sprünge umsonst zu machen, wenn es doch eigentlich an der Rittigkeit hapert.“ Traversalen, Schulterherein, Galopppirouetten, zulegen, versammeln, das geht auch im Springsattel. „Sie müssen durchgeritten sein.“ Da kennt sie keinen Kompromiss. Dafür aber im Parcours auf dem Turnier: Dort stellt sie sich auf jedes Pferd ein, sucht den Mittelweg. Bestes Beispiel: Alice. „Sie hat einen eigenen Willen. Ich glaube, dass sie bei einem Reiter, der 100 Prozent Gehorsam von ihr verlangen würde, das so nicht mitmachen würde.“
Der Lohn ist unkonventionell – eine Mango. Die Geschichte dahinter: Alice liebt Leckerli mit Mango-Apfel-Geschmack. Auf einem Turnier 2016 verspricht die Pflegerin der Stute eine richtige Mango, wenn sie den Großen Preis gewinne. Gesagt, getan. Eine Flugmango für acht Euro. „Ihr stand der Genuss ins Gesicht geschrieben“, lacht Simone Blum. Heute gibt es nach jeder Nullrunde eine Mango. In diesem Jahr gab es einige.
Und genauso viele wunderschöne Fotos von Simone Blum und dem Pferd ihres Lebens. Neben den Bildern der ganzen Blum-Familie füllen die großen Erfolge das Fensterbrett neben dem Esstisch. Von hier aus kann man direkt rüber auf Alice‘ Zuhause gucken. „Es macht jeden Tag Spaß, in den Stall zu kommen und Alice zu sehen“, sagt Simone Blum und lächelt zufrieden. „Auch wenn es nur ihr ‚Gifteln’ ist, dann bin ich schon glücklich.“