CHIO Aachen: Was geschah wirklich am Abreiteplatz?
Aachen – Eine Ausstellerin von Sätteln hatte am Donnerstagmorgen sechs unterschiedliche Bilder auf ihrer Facebook-Seite gepostet. Es sind zwei Pferde in Nahaufnahme mit aufgerissenen Mäulern und engen Hälsen zu sehen: ein Rappe und ein Fuchs. Im Begleittext steht wörtlich als Kommentar: „Ein paar Bilder, die für ausnahmslos alle Reiter stehen, die ich gestern und heute gesehen habe“.
Wir, die beiden großen deutschen Reitsportmagazine Reiter Revue International und St. Georg, haben daraufhin in Aachen beschlossen, gemeinsam einen Faktencheck zu erstellen, da sich die geäußerten Pauschalverurteilungen nicht mit dem decken, was wir auf den Abreiteplätzen und in der Abreitehalle gesehen haben. Wir haben die Turniertage genutzt, um vor Ort zu recherchieren.
Das sind die Fakten:
Wie uns von mehreren Quellen bestätigt wurde, hat die niederländische Reiterin Madeleine Witte-Vrees ihren Fuchshengst Cennin am Dienstag auf dem Abreiteplatz sehr lange in deutlich zu enger Halseinstellung geritten. Sie wurde von der niederländischen Olympiasiegerin Anky van Grunsven trainiert. Die Stewards sprachen die beiden zweimal an. Anschließend wurde die Reiterin mit einer gelben Karte verwarnt. Auch andere Reiterinnen wurden von Mitgliedern des Steward-Teams angesprochen. Sämtliche Reiterinnen haben daraufhin nach Aussage mehrerer Zeugen ihr Reiten verändert.
Der erste Facebook-Post ging am Donnerstagvormittag online. Am Freitag suchten wir das Gespräch mit der Urheberin. „Mir ist bewusst, dass man ein Pferd auch mal anpacken muss“, sagte sie klar. Doch die Reiter sähen nicht mehr, wie wichtig die Durchlässigkeit sei und es fehle an Leuten, die den Mund aufmachen. Sie sei von dem Steward, den sie angesprochen und auf die negative Reitweise angesprochen habe, nicht ernst genommen worden. „Ich fühlte mich wie ein Idiot.“ Wie sie uns berichtete, habe sie ihre Ausbildung zur Pferdewirtin an der Deutschen Reitschule in Warendorf absolviert und bei Willi Schultheis, Harry Boldt und Fritz Tempelmann gelernt. Dann kam ein Unfall, der sie dazu zwang, mit dem Reiten aufzuhören. Sie arbeitet als Sattlerin und Ausbilderin.
Der beschuldigte Steward machte in einem daraufhin von uns gesuchten Gespräch deutlich, dass er seine Reaktion nicht als Ablehnung empfunden habe. „Ich habe geantwortet, dass ich mir die Situation anschauen würde und darauf auch reagiert.“ Aus seiner Sicht habe es sich um ein spanniges Pferd gehandelt, das sich mit der Atmosphäre nicht anfreunden konnte und deshalb von der Reiterin dementsprechend korrigiert werden musste. Dennoch habe man die Reiterin darauf hingewiesen, ihre Reitweise zu überdenken. Insgesamt seien in Aachen allein in der Dressur zwölf Stewards im Einsatz. Von Beginn der Trainingszeiten an bis zum Ende der letzten Prüfung seien täglich einer in der Abreitehalle, zwei an den Vierecken, einer bei der Gebisskontrolle und ein weiterer flexibel einsetzbar im Dienst. „Sie haben alle eine internationale Prüfung abgeschlossen und sind Fachleute, die ihren Job kennen und wissen, was sie tun.“
Es ist unstrittig, dass viele Pferde auf den Dressur-Abreiteplätzen in Aachen mit der Stirn-Nasen-Linie deutlich hinter der Senkrechten zu sehen waren. Dies betrifft Starter aus allen Nationen. Aggressives oder gar brutales Reiten konnten wir nicht beobachten. Die anwesenden Stewards pochten auf das Einhalten der vom Weltreiterverband (FEI) aufgestellten „Zehn-Minuten-Regel“, in der die Pferde in einer engen, nicht aggressiv herbeigeführten Halshaltung zehn Minuten geritten werden dürfen.
Unsere Beobachtungen beziehen sich nicht nur auf das Abreiten direkt vor einer Prüfung, sondern auch auf das morgendliche Training im Stadion und auf den Vorbereitungsplätzen.
In besagtem Facebook-Post ist von einem „hohen FN-Funktionär“ die Rede und es wird der Eindruck erweckt, er habe die Verfasserin des Posts abwimmeln wollen. Gemeint ist Christoph Hess, der bereits seit längerem kein Funktionär der Deutschen Reiterlichen Vereinigung mehr ist und in Aachen als Kommentator für das Dressurradio fungierte. Uns gegenüber sagte er, dieses Gespräch habe nicht einmal eine Minute gedauert, aus dem Hintergrund, dass er in Eile war, weil er zurück ins Stadion musste, um weiter zu kommentieren.
Mittlerweile fand ein Gespräch zwischen ihm und der Ausstellerin statt. Anschließend trafen wir uns mit Christoph Hess. Er konnte zu dem direkten Vorfall nichts sagen, weil er den Vorbereitungsplatz in dieser Zeit nicht im Blick gehabt habe. Die Kompetenz der Ausbilderin stellte er ebenso wenig in Frage wie wir. Gleiches gilt allerdings für die klaren Aussagen der anwesenden Stewards. „Es ist wichtig, dass wir in diesen Momenten in den Dialog gehen“, so Hess‘ Fazit.