Portrait
Bundestrainer Peter Thomsen – Nordisch herb
Am Schwarzen Berg herrscht heute eine Außergewöhnliche Wetterlage. Die Sonne scheint und es ist kaum Wind. „Da habt ihr aber Glück gehabt“, meint der drahtige Mann mit den angegrauten verwuschelten Haaren, dem markanten Gesicht, der so freundlich wie verbindlich dreinschaut. Der Mann, der von sich sagt, er sei kein Spaßvogel und dessen Augen doch was Spitzbübisches haben. Der Mann, der sich fix die rote Bundestrainerjacke übergezogen hat, jetzt, da die Presse den Weg an den Schwarzen Berg in Lindewitt gefunden hat. Weit oben im Norden bei Flensburg, wo Nord- und Ostsee wie die dänische Grenze unter einer Stunde erreichbar sind. Rundherum ist plattes Land an der Straße „Am Schwarzen Berg“. Dort lebt er also, der Bundestrainer der deutschen Vielseitigkeitsreiter: Peter Thomsen, der im April 62 wird. Und mit ihm seine Frau Kirsten, Tierärztin und früher selbst Vielseitigkeitsreiterin, die Töchter Kaya (19), Junioren-Europameisterin mit dem Team und Einzel-Bronze-Gewinnerin 2021, und Annie (17), die den Fitness-Sport dem Reitsport vorgezogen hat.
Der Wasserträger
Seit gut einem Jahr hat „Piet“ Thomsen den Bundestrainerposten inne. Er hat damit die Nachfolge von Hans Melzer angetreten. 21 Jahre war der der Coach der deutschen Busch-Equipe, zum größten Teil gemeinsam mit Chris Bartle. Der so positiv gestimmte Mann mit dem dampfenden Zigarillo und der Tüftler aus Great Britain – die zwei waren ein Dreamteam, machten Deutschland zu einer führenden Vielseitigkeitsnation in einer Zeit, in der sich dieser Sport extrem verändert hat. Unter ihren Kaderreitern war auch Peter Thomsen.
Über 20 Jahre gehörte er zu Deutschlands Top-Buschis. Schon 1993, mit 32 Jahren, bestritt er seine ersten Europameisterschaften. Bis 2015 nahm er an sage und schreibe 14 Championaten teil, darunter drei Olympische Spiele, vier Weltmeisterschaften und sieben Europameisterschaften. Mit unterschiedlichen Pferden – allesamt aus seiner Ausbildung im hohen Norden.
Er gewann Mannschaftsgold mit Ghost of Hamish bei den Olympischen Spielen in Hongkong und Mannschaftsgold mit Barny bei den Olympischen Spielen in London. Teambronze gab es 1994 bei den Weltmeisterschaften mit White Girl, Team-Silber bei den Europameisterschaften 1999 mit Warren Gorse. All das als Amateur – Thomsen war Account-Manager beim Logistik-Unternehmen DHL. Aber eben auch ein Mannschaftsreiter, wie er im Buche steht.
„Das Team ist der Sieger. Alleine geht gar nichts.“
Oft war er der „Pathfinder“, der als erstes ins Gelände musste, die so wichtigen Erkenntnisse über die Strecke aus Reitersicht lieferte, das sichere Ergebnis nach Hause bringen musste, damit die Mannschaftskollegen befreiter losreiten konnten. „Wie der Wasserträger beim Radfahren“, sagt Thomsen. „Das hat funktioniert und so haben sie mich in das Team eingebaut.“ Hat er’s gerne gemacht? Thomsen macht dicke Backen. „Man gewöhnt sich an alles.“ Norddeutsch für: War ok. Pause. „Es ist schwer, weil du keine Informationen hast. Wenn’s aber dann einen Mannschaftserfolg gibt, ist diese Rolle unheimlich wichtig. Das hat Christoph in Pratoni herausragend gemacht und am Ende war das der Schlüssel zum Sieg, weil die anderen Vollgas geben konnten.“ Jetzt spricht der Bundestrainer in Peter Thomsen. Die Rede ist von Christoph Wahler, der 2022 bei seiner ersten Weltmeisterschaft im italienischen Pratoni del Vivaro den „Pathfinder“ gab. „Wenn der Erste rausfliegt, wird das ein ganz anderes Spiel. Wie beim Test-Event: Der erste war auf der Hälfte der Strecke verletzt, der zweite fiel runter. Da waren wir fertig, ne. Bei der Weltmeisterschaft aber hatten wir einen im Ziel und konnten den anderen sagen ‚go for it!‘.“ Die Rechnung ging auf: Mannschaftsgold und Einzel-Silber für Julia Krajewski bei Thomsens Championats-Einstand als Bundestrainer. „Dann ist das ‚satisfaction‘, das erleben zu dürfen.“
„Satisfaction“. Das Wort fällt an diesem Tag im Interview noch des Öfteren. Satisfaction, das Gefühl, wenn alles aufgeht, es geschafft zu haben, die pure Zufriedenheit, Glückseligkeit. „Ich hoffe, dass das die Reiter auch motiviert. Aber das wird nicht immer so weitergehen.“
Der Stratege
Es ist kein leichtes Erbe, wenn man auf ein Duo wie Melzer und Bartle folgt, die so lange agiert und beeindruckende Spuren hinterlassen haben. Den Respekt der Reiter muss man sich erarbeiten, muss abliefern. Aber Thomsen hat ein paar Trümpfe im Ärmel, die ihn für diese Aufgabe gut rüsten, diese sind vor allem durch seine Vita geprägt: Er war immer Amateur. Sport, Beruf, Familie – das war sein Dreiklang. Er weiß, was es heißt, breiter zu denken, Misserfolge aufzufangen, selbst aufgefangen zu werden, Prioritäten zu verschieben. Sein Beruf hat ihn in Sachen Teamleitung und Management viel gelehrt. Seit 40 Jahren bildet er Pferde aus, den Vielseitigkeitssport kennt er wie seine Westentasche, er kennt die Perspektive als Sportler. Er weiß, wie unterschiedlich die Wahrnehmung sein kann: „Jeder Reiter blickt durch seine Brille, jeder Veranstalter, jeder Pferdebesitzer, jeder Verband. Das alles zusammenzufügen, macht den Reiz aus.“
Den Job als Bundestrainer habe er sich weniger anstrengend und auch weniger zeitintensiv vorgestellt, räumt er ein. Auf die schweren Tage hingegen war er gefasst – die Tage der Nominierung zählen dazu. „Du musst dem einen sagen ‚Du kommst mit‘ und dem anderen ‚Du nicht‘. Und beide haben unheimlich was reingehauen.“ Er muss mit Fingerspitzengefühl die Reiter-Pferde-Paare für die Mannschaft auswählen und dem Vielseitigkeitsausschuss vorschlagen, der die Entscheidung fällt. Reiter, die das Fundament für den Erfolg legen, die Sicherheit in die Mannschaft bringen, die „Wasserträger“ wie er, und diejenigen mit „Alpha-Mensch-Mentalität“, die Siegertypen. „Die sind wichtig, die brauchen wir. Das sind die, die nachher ganz wenig Strafpunkte haben“, sagt er.
Auch das gehört zum Spannungsbogen des Sports, den er sich wünscht, weiterzuleben. „Als Zuschauer gehst du mit, gewinnst mit, verlierst mit. Als Trainer ist das was anderes, da steckt man mittendrin. Wir sind jetzt voll in der Vorbereitung auf die Europameisterschaften und die Olympischen Spiele.“ Jetzt redet er zwar von Paris 2024, im Kopf ist er viel weiter. Thomsen denkt in Fünf-Jahres-Schritten. Das predigt er auch seinen Reitern, vor allem den noch jungen, unerfahrenen – die, die an der Spitze reiten, wissen es: Das Pferd für die Olympischen Spiele 2028 in Los Angeles muss schon sechsjährig im Stall stehen und in ihrer Ausbildung sein. Thomsen plant über Jahre – für die Leistung an vier Tagen. „Wenn du gut bist, ist alles fein. Wenn du Vierter wirst, bist du der erste Verlierer. So ist es.“ Die harte Währung eines Bundestrainers sind Medaillen.
Der Team-Typ
Ehe er selbst den Posten des Bundestrainers angetreten hat, unterstützte er Hans Melzer ab 2019 als Co-Trainer. „Hans hat einfach diese positive Art, dieses Lachen, dieses Keine-Angst-haben. Wann und warum auch immer etwas schief geht, hat er dem Sportler authentisch mitgegeben: Ich glaub‘ an dich“, erzählt Thomsen. „Das ist etwas Positives, was ich auch übernommen habe. Am Ende bin ich eher ein norddeutscher Typ, ‚büschn‘ anders eben und das soll auch so bleiben. Ich bin eher einer, der beruhigend einwirkt.“
Peter Thomsen arbeitet nicht allein. In seinem Trainerteam sind der französische Geländetrainer Rodolphe Scherer, „mit dem südländisches Flair in die deutschen Gedanken kommt“, die neue Dressurtrainerin Anne-Kathrin Pohlmeier, „die einfach verrückt nach Dressur und Erfolg ist und die das lebt“, und Marcus Döring, der die Buschis seit 2017 im Springen betreut, und „den ich aus meiner Reiterzeit kenne und sagen kann: Besser geht es nicht“. Eine homogene Runde, findet Thomsen. Das ist ihm wichtig. „Es darf ruhig unterschiedliche Persönlichkeiten haben, so wie der südländische Franzose und der trockene, kühlere Norddeutsche. Aber es muss in sich Struktur und einen Plan geben. Es braucht Vertrauen. Es darf auch mal was passieren, womit die Mannschaft nicht rechnet, aber es muss irgendwo eine Linie geben.“ Er möchte nicht autoritär führen, er möchte die Leute mitnehmen, jeden, der in dem großen Rad des Spitzensports beteiligt ist: Reiter, Besitzer, Funktionäre, Sponsoren.
Was das Team um Thomsen auszeichnet: Präsenz zu jeder Zeit. „Das ist das Hauptkriterium des Sportlers an den Trainer“, meint Peter Thomsen. „Aber genauso ist es das Hauptkriterium an den Reiter: Du muss alles reinhauen. Nur dann kriegst du einen Tim Price, eine Laura Collett und wie sie alle heißen, irgendwann geschlagen.“ Auch an der letzten Schraube noch zu drehen, ohne zu überdrehen und das Wohl des Pferdes zu riskieren – darin liegt die Kunst des Spitzenreiters. „Dieses Pedantische, immer wieder besser zu werden, das ist Spitzensport. Dieses Mosaik macht es. Der Einsatz des Reiters, erfolgreich zu werden und das Engagement des Trainers, Reiter erfolgreich zu machen, das ist der Grundstock. Das motiviert am Ende und das war auch Chris Bartles Stärke. Den konntest du Tag und Nacht anrufen oder er rief dich an und dann sagt er dir noch, was du in der Verfassungsprüfung beim Vortraben besser machen kannst.“ Auch ein Peter Thomsen musste das Vortraben üben. Da hatte er schon die ersten Championate hinter sich. Immer wieder tüfteln, nie aufhören wollen, weiter zu lernen – Spitzensportler eben. Dabei war gar nicht geplant, dass Peter Thomsen mal ein solcher werden könnte.
Der Autodidakt
Der Stall der Thomsens war früher ein landwirtschaftlicher Betrieb. Die Eltern hatten Kühe, Schweine, ein Pony. Peter Thomsen lernte reiten, wie man das in Schleswig-Holstein so machte: Rauf aufs Pony, raus ins Gelände, rüber über die Hindernisse – und Dressur ... Dressur? Allerhöchstens ein Pflichtfach. Aber das war noch eine andere Zeit – auch in der Vielseitigkeit. „Früher wurde mehr über das Gelände selektiert, übers Durchkommen, die Ausdauer. Gott sei Dank ist das vorbei. Jetzt wird über klassisches Reiten, über feines Reiten entschieden. Die Pferde müssen picobello gesund sein.“
Vom springreitenden Bauernsohn zum Olympiasieger hat es Peter Thomsen geschafft. „Mein größter Kick war 1982 bei der Weltmeisterschaft in Luhmühlen. Da bin ich schon Vielseitigkeit geritten. Diese Menschenmassen, diese 40.000 Menschen im Gelände, diese Ritte und Bilder. Ab da wollte ich genau das auch unbedingt.“ Er bewunderte die deutschen Vielseitigkeitsreiter, Herbert Blöcker, Burkhardt Tesdorpf, Dietmar Hogrefe – „sie waren Helden in meiner Wahrnehmung“.
Thomsen war angefixt und machte Karriere. Er lernte das Reiten autodidaktisch, für regelmäßigen Reitunterricht war kein Geld da. Er fuhr zu Profis wie Herbert Blöcker, um ihnen beim Reiten zuzusehen, das Gesehene zu Hause mit den eigenen Pferden zu üben. Die größten Idole waren nicht die größten Pädagogen. Peter Thomsen musste ordentlich einstecken. „Herbert sagte: ‚Du lernst es nie.‘“, erinnert sich Peter Thomsen. „Herbert war auf Olympianiveau, ich war Anfang 20. Ich ritt natürlich nicht so zum Sprung wie er und das fand er entsprechend.“ Die harte Schule hielt ihn nie ab.
Während seines dualen Studiums in Darmstadt bei der Deutschen Post hatte er einmal an einer Reithallentür den Spruch „Gewinner geben nie auf“ gelesen. „Der passt.“ Auch zu ihm. Er schaffte es zum Kadersichtungslehrgang beim damaligen Bundestrainer-Duo Martin Plewa und Horst Karsten hin zur ersten Europameisterschaft 1993. Und was sagten seine Eltern dazu? „‘Völliger Quatsch. Reiten kostet Geld und bringt nichts.‘ Das haben sie revidiert hinterher – nach Hongkong.“
Der Feiertyp
Die Vielseitigkeit hat Thomsen immer fasziniert, besonders der Geländeritt. „Das Abenteuer mit dem Pferd zusammen“, sagt er. „Dass das Pferd nach fünf, sechs Jahren der Ausbildung zum Beispiel in Pratoni den Steilhang runtergaloppiert und unter Kontrolle bleibt, über diese schmalen Hindernisse ins Nichts springt, aber genau weiß: Wenn mein Reiter das von mir will, dann klappt das. Und das funktioniert nur, wenn man den richtigen Weg geht, wenn man sie nicht überfordert, wenn man wirklich ein halbes Jahrzehnt plant. Und dieses Gefühl hast du aber auch mit einem Fünfjährigen in der A-Vielseitigkeit. Das ist Satisfaction, das ist Spaß mit dem Pferd über die Hindernisse zu fliegen und das Vertrauen des Pferdes zu genießen.“
„Wenn einer es unbedingt will, dann schafft er es auch. Gewinner geben nie auf. ”
Badminton, Burgley, Kentucky, die Championate – das waren die besonders emotionalen Momente seiner Reiterkarriere. „Die Goldmedaille in Hongkong war das Dankeschön auf die Lebensleistung und dann natürlich London, die schönsten Olympischen Spiele, die ich erlebt habe. Diese Erfolge sind auf der Festplatte. Ein Leben lang.“ Jeder reagiert anders in solch emotionalen Momente. „Die einen weinen, lachen. Also ich feiere dann. Gerade Olympia, da feierst du zwei Wochen. Das ist einfach Freude. Satisfaction.“
Die Turnierreiterei zu beenden, fiel Peter Thomsen schwer. Aber auch da war die Familie da – und das gesamte Team Thomsen am Schwarzen Berg in Lindewitt. Dort, wo Wind und Regen Alltag sind. Aber man muss ja auch mal Glück haben.