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Reinhard Richenhagen: „Mit diesem Pauschalisieren kann ich nicht umgehen“

Reinhard Richenhagen ist Stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Richtervereinigung, international anerkannter Dressurrichter und geschätzter Ausbilder. Im Interview warnt er vor „Video-Richtern“ und mahnt seine Richterkollegen zur Selbstkritik.

Reinhard Richenhagen ist Stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Richtervereinigung (DRV).

Der Ritt von Charlotte Fry und insbesondere die Bewertung dessen wurde in den Medien scharf kritisiert. Wie blicken Sie darauf?

Man muss sagen, was ich in Teilen in der Fachpresse gelesen habe, finde ich fast schon respektlos und überzogen. In der Presse und teilweise auch in den sozialen Medien wurde alles in Frage gestellt. Das geht aus meiner Sicht in die falsche Richtung. Ich war vergangenes Jahr in Riesenbeck, habe dort die Pferde gesehen und gesagt, dass das toller Sport und gutes Reiten war. Jetzt kommen die Leute und sagen, „es wird nachhaltig falsch geritten und falsch gerichtet“. Mit diesem Pauschalisieren kann ich nicht umgehen.

Aber ist die Kritik aus Ihrer Sicht unberechtigt?

In Teilen ist sie berechtigt. Wenn wir den Ritt von Charlotte Fry in Amsterdam nehmen und dabei zum Beispiel die erste Lektion, das Halten und die Anlehnung über weite Teile des Rittes heranziehen: Beides ist bei diesem Paar durchaus zu kritisieren. Was keinem Zuschauer – ob Laie oder Pferdekenner, ob Trainer oder Reiter – klar gemacht werden kann, ist, dass das Pferd beim Halten nicht einmal seine Gliedmaßen ruhig auf den Boden stellt, obendrein noch deutlich zurücktritt und dann die Noten für beide Grußaufstellungen zusammengefasst zwischen 5,5 und 7 liegen. Wenn man diese Noten bei solch einer missglückten Lektion vergibt, kann man danach richten wie man will, man hat an Glaubwürdigkeit eingebüßt.

Bei der Anlehnung hat dieses Pferd mit einem zumeist sehr engen Hals durchaus Mängel gezeigt. Das ist für jeden erkennbar. Und da muss ich als Richter eine Gewichtung vornehmen. Wenn ich die für die Richter verbindlichen Bewertungsmaßstäbe zugrunde lege, und diese haben sich an der Skala der Ausbildung zu orientieren, dann sind schon die ersten Kriterien Takt, Losgelassenheit, Anlehnung mit Mängeln behaftet. In einer solchen Situation müssen wir aufpassen, dass wir nicht in eine Notenskala von deutlich höher als 7 kommen. Daher kommt ja die Kritik.

Ich habe dieses Pferd noch nicht live gesehen, aber Fakt ist, auf dem Video erschien er laufend zu eng. Ich warne aber auch vor den sogenannten „Video-Richtern“.

Warum?

Manches sieht in Natura anders aus als auf dem Video. Da muss man vorsichtig sein.

Hätte das bei diesem Ritt etwas geändert?

Nein. Natürlich ging dieses Pferd nicht in der Form, wie wir uns das vorstellen. Dafür fiel die Bewertung meiner Ansicht nach reichlich positiv aus. Möglicherweise wäre ich mit meiner Beurteilung kritischer gewesen. Warum die Kollegen hier allesamt eine positivere Sichtweise hatten, müsste man einmal erfragen. Dafür wäre ein sachlicher Diskurs erforderlich und nicht eine teilweise oberlehrerhafte, abgehobene Richterschelte von Teilen der Presse und anderer Beobachter. Zu beachten ist doch, dass es sich bei den Kollegen um erprobte und anerkannte Fachleute handelt; insofern wäre ich sehr interessiert und neugierig im Hinblick auf eine mit diesen Kollegen fachlich vorgenommene Diskussion zu diesem Ritt. Dass diese Diskussion auf der Basis der überlieferten Grundsätze der klassischen Reitausbildung mit der Skala der Ausbildung geführt werden müsste, ist selbstredend. Ebenfalls selbstverständlich ist, dass wir unsere Beurteilungen immer wieder einmal kritisch hinterfragen müssen. Dass Fehler passieren, ist menschlich. Dann müssen wir uns als Richter mit diesen Fehlern aber auch auseinandersetzen.

Aber reicht das? Die Menschen sind kritischer, sensibilisierter geworden – hinzu kommen Skandale, die die Stimmung immer öfter kippen lassen.

Wir sind kritischer und sensibler geworden im Hinblick auf das Tierwohl. Das Tierwohl hat in der Ausbildung und der Präsentation der Pferde absolute Priorität. Das ist gut so! Es ist auch keine Frage, dass wir Richter sehr genau darauf achten, dass mit den Pferden tierwohlgerecht umgegangen wird. Unser diesbezügliches Reglement wird von den Reitern akzeptiert und man richtet sich danach. Die von Ihnen angesprochenen und von Einzelreitern verursachten Skandale stellen restlos unakzeptable Tierquälereien dar, die nicht nur von der Sportgerichtsbarkeit mit aller Härte geahndet werden müssen, sondern auch hoffentlich zivilgerichtlich verfolgt werden! In dieser Hinsicht sind sich doch alle – Reiter, Ausbilder, Trainer, Richter und Funktionäre – absolut einig.

Anlass zu Kritik sind vielmehr bisweilen die Art der Präsentation der Pferde und die von den Richtern vorgenommenen diesbezüglichen Bewertungen. Dies hat dann etwas mit der Reitlehre und der immer wieder zitierten Skala der Ausbildung zu tun; das Tierwohl muss dabei noch gar nicht tangiert sein. Da wird oftmals vom außenstehenden Beobachter die Losgelassenheit infrage gestellt, die im Übrigen für sich alleine gestellt noch nicht gutes Gehen eines Pferdes ausmacht. Ähnlich wie bei jedem Sportler muss auch bei einem Pferd – insbesondere bei fortgeschrittener Ausbildung – eine positive Grundspannung erzeugt werden. Die hierfür benötigte Energie führt dann auch zu einem entsprechenden Ausdruck hinsichtlich der Bewegungsqualität des Pferdes. Die Differenzierung zwischen positiver Grundspannung mit dementsprechend positivem Ausdruck und verspannten, unnatürlichen Bewegungsabläufen und daraus resultierenden falschen Haltungen des Pferdes ist eine Hauptaufgabe des Richters und im Rahmen einer detaillierten Bewegungsanalyse „abzuarbeiten“. Selbstverständlich ist die Skala der Ausbildung die Grundlage dieser Bewegungsanalyse. Diese setzt viel Erfahrung, fundierte Fachkenntnisse und eine hohe Konzentration voraus. Auch aus diesem Grunde verlangt die Richterausbildung eine umfangreiche Beschäftigung mit der Materie. Die vielfach von einigen Beobachtern praktizierte Reduzierung der Analyse auf die Form eines Pferdes reicht bei weitem nicht aus und muss zwingend um die – sehr viel komplizierte – Bewegungsanalyse ergänzt werden.

Auch hier ist selbstredend, dass Reiter, Ausbilder, Trainer, Richter und Funktionäre identische Vorstellungen haben und im ständigen Austausch miteinander stehen müssen.

Was brauchen Richter, um mutigere Entscheidungen zu treffen?

Ziel der Richterei ist, dass die Präsentationen von Pferd und Reiter entsprechend dem geforderten Ausbildungsstand und dem entsprechenden Alter des Pferdes auf der Grundlage der überlieferten Grundsätze – Skala der Ausbildung – fachlich korrekt und objektiv bewertet werden. Wir benötigen hier nicht mutigere Entscheidungen, sondern die korrekte Anwendung der Beurteilungskriterien. Das Richten muss frei sein von Vorurteilen, frei sein von der Erinnerung an frühere Ergebnisse und frei sein von falschen Emotionen. Es ist immer das zu beurteilen, was aktuell auf dem Prüfungsplatz stattfindet. Wenn man sich fachlich sicher ist, das etwas gut oder nicht so gut ist, benötigt man auch keinen Mut, eine entsprechende Bewertung zu finden. Es gehört nicht Mut dazu, eine schlechte Präsentation eines prominenten Paares mit einer niedrigen Bewertung zu versehen, sondern insbesondere fachliche Sicherheit und eine entsprechende charakterliche Stärke. Insofern müssen Reiter und Richter fachliche Kritik auch aushalten.

Zur Förderung von Unabhängigkeit und Objektivität der Richter waren die Veranstalter vor nicht allzu langer Zeit verpflichtet, diese nach einer definierten Zeit auszutauschen. Dieses sogenannte Rotationsprinzip ist jedoch insbesondere durch Einsprüche von Seiten der Veranstalter wieder aufgehoben worden.

Können Sie dieses Rotationsprinzip kurz beschreiben?

Früher war in der LPO verankert, dass man als Richter auf einem Turnier nur fünf Jahre eingesetzt werden durfte. Das kann auch für die Reiter viel interessanter sein, wenn öfter mal andere Richter eingesetzt werden. Leider ist das wieder abgeschafft worden, ich war ein großer Befürworter davon, weil dadurch über die Zeit durch wiederholtes Richten von Reiter-Pferde-Paaren – oft auch unbewusst – aufgebaute positive oder auch negative Vorbehalte weitestgehend ausgeschaltet werden konnten.

Wäre es nicht sinnvoll, die Einladungen für Richter abzuschaffen, um mehr Unabhängigkeit und vielleicht auch Mut herzustellen? Warum kann man die Richter nicht zentral auf die Turniere verteilen?

Wie schon gesagt: bei fachlicher Kompetenz und charakterlicher Integrität ist Mut für eine objektive Beurteilung nicht unbedingt vonnöten. Die Unabhängigkeit eines jeden Richters ist jedoch eine zwingende und vom Regelwerk geforderte Voraussetzung. Der Nachweis der Besorgnis einer Befangenheit führt zwangsläufig zu Sanktionen. Die Zuweisung von Richtern auf die Turniere von zentraler Stelle aus wurde schon vielfach durchdiskutiert. Bei einem Veranstaltungsaufkommen von zum Beispiel 3.428 Turnieren im Jahr 2023 kann man sich vorstellen, welchen Aufwand hier eine zentrale Stelle zu betreiben hätte. Nahezu jeder Veranstalter wird Ihnen bestätigen können, wie zeitaufwendig es oftmals ist, die Richtercrew für die eigene Veranstaltung zeitnah und vollständig zusammen zu bekommen.

Aber in Zeiten von Doclib, Doodle oder anderer Terminsoftware dürfte das doch umsetzbar sein.

Die von Ihnen angedachte Richterzuweisung ist doch kein EDV-Problem! Die Einladung der Richter erfolgt – und das ist auch gut so – durch persönliche Ansprache. Die Vereinbarung von Terminen und Einsätzen mit den Richtern bedarf einer vorausgehenden sorgfältigen Planung und einer persönlichen Abstimmung. Bei der hohen Anzahl an Veranstaltungen in Deutschland lässt sich dieses über eine Zentralisierung nicht realisieren.

Wie hoch ist der Stellenwert der technischen Korrektheit der Lektionen und welchen Stellenwert hat das Ausdrucksverhalten des Pferdes?

Bei der Beurteilung eines Rittes muss zunächst und vorrangig festgestellt werden, ob sich das Pferd auf sicherer gymnastizierter Grundlage korrekt bewegt und sich darauf basierend in einer angemessenen Körperformierung mit der erforderlichen Balance präsentiert.

Nur auf einer derartigen Grundlage können Lektionen tatsächlich auch korrekt gelingen. Insofern ergibt sich daraus schon eine gewisse Priorität im Hinblick auf die Gesamtbeurteilung.

Umgekehrt lässt die Ausführung der Lektionen aber auch klare Rückschlüsse auf das Gehen des Pferdes zu. Unter Zugrundelegung der Ausführung der Lektionen kann die Durchlässigkeit überprüft werden. So können Pferde – insbesondere in den unteren Klassen – durchaus losgelassen gehen, müssen aber deshalb nicht zwingend auch durchlässig sein. Dagegen kann bei Pferden, die sich bis in die höchsten Klassen durchlässig darstellen, eine sichere Losgelassenheit unterstellt werden.

Sie sehen, dass beides – das Gehen des Pferdes und die Ausführung der Lektionen – eng miteinander verbunden und auch gegenseitig voneinander abhängig ist. Das „Ausdrucksverhalten“ eines Pferdes ist somit klarer Bestandteil sowohl der Bewegungs- und Haltungsanalyse als auch der Überprüfung der Durchlässigkeit. Ganz klar und eindeutig: wir als Richter wollen zufriedene Pferde sehen, die mit Freude an der Bewegung zwanglos Leistungen erbringen.